1922

Vorarbeit in Deutschland

Die ersten Organisationen in der Schweiz nannten sich zunächst "Schweizer Freundschafts-Verein", dann "Schweizer Freundschaftsbund" und schliesslich "Schweizer Bund für Menschenrecht".

Im ersten Halbjahr 1922 erschienen in der Berliner Zeitschrift Die Freundschaft, dem Organ des 1920 gegründeten Deutschen Freundschafts-Verbandes DFV, diverse Aufrufe und Mitteilungen, gerichtet an Homosexuelle in der Schweiz1:

"Gleichdenkende in der Schweiz! Auch an euch ergeht der Ruf, an unserer Bewegung teilzunehmen. Der D.F.V. hat zwar Mitglieder in fast allen Kantonen und grösseren Städten, doch ist deren Zahl noch recht gering. In Luzern sollen auch Zusammenkünfte stattfinden."

In Heft 12 waren Adressen in Luzern und Berlin angegeben, bei denen sich Interessierte melden konnten. Es mussten nicht wenige gewesen sein, denn in einer Nachricht in Heft 25/1922 vom 24. Juni hiess es: "Am 1. und 2. Juli 1922 findet in Luzern ein 'Gründungstag' statt"2.

Da drängt sich die Frage auf: Warum geschah das im damals noch erzkatholischen, traditionalistischen Luzern und nicht an anderen, liberal regierten Orten?

Vermutlich war der Leidensdruck in Luzern am grössten. Die Betroffenen brauchten Hilfe und Unterstützung und suchten sie bei der eben entstandenen Dachorganisation deutscher Gruppierungen, dem Deutschen Freundschafts-Verband (DFV). Als Einzelmitglied des DFV war man zu schwach. Eine Vereinigung schweizerischer Kameraden konnte das ändern, besonders wenn sie sich als Landessektion dem DFV anschliessen würde.

Das damalige Luzern hatte seit 1906 das schärfste Kriminalstrafgesetz aller Kantone. Nach § 119 stand Zuchthaus bis zu fünf Jahre auf "unnatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes mit einem Menschen oder mit Tieren". Das betraf Männer wie Frauen ohne Altersgrenze, auch Minderjährige. Ohne genauer bestimmte Bezeichnung, was ausserhalb der "natürlichen" Mann-Frau Beziehung strafbar sei, konnte jede andere Form sexueller Betätigung gegen das Gesetz verstossen, auch Selbstbefriedigung.

Das schaffte Unsicherheit und Leidensdruck - nicht nur bei Homosexuellen.

Unter solchen Umständen sich zusammenfinden, ein Lokal mieten und dort eine Gruppierung von homosexuell Veranlagten aus dem ganzen Lande zu gründen, das brauchte Mut und geschah mit dem Risiko, die eigene Existenz zu verlieren.

Ernst Ostertag, Dezember 2007

Quellenverweise
1

Friedrich Radszuweit, Hrsg.: Die Freundschaft, Organ des 1920 gegründeten Deutschen Freundschafts-Verbandes, DFV, Heft 10 / 1921 und Hefte 4 und 12 / 1922.

2

Friedrich Radszuweit, Hrsg.: Die Freundschaft, Heft 25 / 1922.