1893/1894
Vorgeschichte
Jacob Rudolf Forster und der Vorentwurf
1893 lag der erste Vorentwurf (Erste Expertenkommission) für ein gesamtschweizerisches Strafrecht bereit. Im Auftrag des Eidg. Justizdepartements hatte ihn Carl Stooss verfasst. 1894 erklärte das Justizdempartement diesen Vorentwurf zur Diskussionsgrundlage. Nun konnten die Beratungen und Auseinandersetzungen auf breiterer Ebene beginnen.
1893 hatte der grosse Kämpfer Jacob Rudolf Forster eine Eingabe an das Justizdepartement in Bern gerichtet und ein Exemplar des 1891 in Berlin erschienenen Buches von Dr. Albert Moll "Die Conträre Sexualempfindung" beigelegt. Damit wollte er die massgeblich involvierten politischen Kreise auf sein Anliegen aufmerksam machen und ihm zum Durchbruch verhelfen: Es sei ein Ende der bisherigen Willkür gegenüber homosexuell empfindenden Menschen zu setzen durch neu zu schaffende gesetzliche Straffreiheit und Sicherheit. Denn aus seinen persönlichen bitteren Erfahrungen wusste er sehr genau, in welch hohem Masse ein faires Gesetz Voraussetzung ist, dass freie Entfaltung des Einzelnen möglich wird und dass mehr Sicherheit auch Wohlstand und blühende Gemeinwesen fördert.
Mit seinen Ideen war er nicht allein. Er kannte viele andere Homosexuelle mit ähnlichen Lebensläufen und verkehrte in privaten Zirkeln, in denen man sich gedanklich austauschte und zudem gut orientiert war über die Entwicklungen in Deutschland und die neuen Publikationen aus Berlin. Zu diesen Kreisen gehörten auch einflussreiche und hochgestellte Persönlichkeiten. Das geht aus seiner Autobiografie hervor und wird durch den seiner Eingabe beigelegten Band von Albert Moll unterstrichen, worin unter anderem die Abschaffung des gegen Homosexuelle gerichteten deutschen Strafparagraphen 175 begründet wird.
Natürlich wussten Forster und seine Kreise von den früheren Entwürfen und Ansätzen im Kanton Zürich und wollten jeden derartigen Rückfall frühzeitig stoppen: 1822 hatte Heinrich Escher einen Entwurf vorgelegt, der 6- bis 12-jährige Zuchthausstrafen vorsah (Art. 331) und weiter forderte:
"Züchtlinge solcher Art sollten von anderen Sträflingen [...] abgesondert und, wenn die Kosten aus ihren Mitteln bestritten werden können, in einsamem Kerker verwahrt, sonst aber zu schwerer [...] Arbeit angehalten, und bei ihrer Entlassung auf wenigstens gleich lange Zeit unter genaue und harte polizeiliche Aufsicht gestellt werden."
Der Entwurf von Johann Kaspar Ulrichs von 1835 forderte unter anderem zusätzlich:
"Die Bestimmung des §133 betreffend die Verweisung (aus Eidgenossenschaft, Kanton oder Bezirk) gilt auch hier."
Forsters Stellungnahme galt wohl auch der Stützung und Würdigung der Tätigkeiten von Dr. Emil Zürcher, seit 1890 Professor für Strafrecht an der Universität Zürich und später, 1902, Mitbegründer der Psychiatrisch-juristischen Vereinigung Zürich. Dieser, ein bekennender Atheist, war Mitglied der eidgenössischen Expertenkommission und stand in regem Kontakt mit Carl Stooss. 1896 plädierte er in der Kommission - vergeblich - für Straffreiheit,
"wenn solche Handlungen nicht an minderjährigen Knaben vorgenommen werden [...] Wenn aber erwachsene Menschen, die sonst moralisch nicht defekt sind, dies unter sich treiben, sei das [...] nicht ein von Amts wegen zu verfolgendes Verbrechen [...] Er sehe kein sicherheitspolitisches und kriminalistisches Interesse [...] an einer Verfolgung dieser Handlungen, [...] eine solche rufe nur einem widerlichen Denunziantentum1."
Ernst Ostertag, Mai 2004
Weiterführende Links intern
Quellenverweise
- 1
Martin Mühlheim: "Die Diskussion um die strafrechtliche Stellung der Homosexualität im Kanton Zürich von 1798 bis 1942".