1945-1994

Geschichte nach 1945

Nach dem Krieg blieben die §175 und §175a in ihrer Hitler-Form bestehen und wurden im August 1949 unverändert in die Gesetzgebung der von der Christlich Demokratischen Union (CDU) beherrschten Bundesrepublik (BRD) aufgenommen - für weitere 24 Jahre.

In der im Oktober 1949 gegründeten und von der sozialistisch-kommunistischen Einheitspartei (SED) diktatorisch geführten DDR wurde 1950 der §175 auf den Geltungsbereich vor der Hitler-Verschärfung, also auf die Fassung der Weimarer Republik, zurückgenommen. Dazu mochte der ursprünglich humanistisch-atheistische Ansatz des Marxismus beigetragen haben - nebst dem Willen der Ausmerzung nationalsozialistischer Einflüsse, ihrer Rassengesetze und ihrer Ideologie.

Am 10. Mai 1957 lehnte das Bundesverfassungsgericht der BRD in Karlsruhe die Verfassungsbeschwerden zweier nach §175 verurteilter Männer ab. Sie hatten sich auf die Nichtvereinbarkeit des §175 mit Artikel 3 des Grundgesetzes berufen, wonach niemand "wegen seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt" werden darf. In der Begründung dieser Ablehnung hiess es unter anderem:

"Von 1945 zum Zusammentritt des Bundestages [im August 1949] herrschte in den westlichen Besatzungszonen so gut wie einhellig die Meinung, die Paragraphen 175 und 175a seien nicht in dem Masse 'nationalsozialistisch geprägtes Recht', dass ihnen in einem freiheitlich-demokratischen Staate die Geltung versagt werden müsse."

Man versteckte sich also hinter den westlichen Siegermächten und fuhr andernorts mit der Begründung weiter:

"Unsittliche Gesetze gehören nie zur verfassungsgemässen Ordnung. [...] Gleichgeschlechtliche Betätigung verstösst eindeutig gegen das Sittengesetz."

Entscheidend sei,

"dass die öffentlichen Religionsgemeinschaften, insbesondere die beiden grossen christlichen Konfessionen, aus deren Lehren grosse Teile des Volkes die Massstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen."

Der inquisitorische Begriff "Sodomie" ist damit seinem Geiste nach als Grundsatz der staatlichen Rechtsprechung der BRD bestätigt worden, zumindest was die homosexuellen Mitbürger betraf. Indem Hitlers Rassengesetze diesen Menschen gegenüber weiter in Kraft blieben, wurde deren Begründung wieder auf die traditionelle christliche Ethik und Morallehre zurückgeführt. Die Verfolgung war somit "salonfähig" und forderte unvermindert Hunderte von Opfern.

Am 12. Januar 1968 wurde der §175 in der DDR abgeschafft und durch den §151 ersetzt, nach welchem nur Personen bestraft werden sollten, die mit Jugendlichen bis 18 Jahre gleichgeschlechtliche Handlungen vorgenommen hatten. Erstmals in der neuzeitlichen deutschen Rechtsgeschichte galt ein entsprechender Paragraph auch für Frauen.

Am 1. September 1969 trat in der BRD eine Neufassung des §175 unter SPD-Justizminister Gustav Heinemann in Kraft, wonach gleichgeschlechtliche Kontakte unter erwachsenen Männern ab 21 Jahren nicht mehr betraft werden sollten. Unzucht mit Abhängigen und männliche Prostitution blieben weiterhin strafbar.

Die Schutzaltersgrenze für Jugendliche bis 18 Jahre führte die BRD am 23. November 1973 ein, fast sechs Jahre nach der DDR.

Am 14. Dezember 1988 strich die DDR den §151 ersatzlos. Für Homosexuelle galt damit ab Inkraftsetzung am 1. Juli 1989 erstmals auf deutschem Boden keinerlei Sonderrecht beziehungsweise Sonderstrafe mehr. Der Jugendschutz wurde für Hetero- wie Homosexuelle einheitlich in der Jugendgesetzgebung geregelt.

Der am 3. Oktober 1990 nach dem Fall der Berliner Mauer geschlossene Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR sah nun vor, dass (beispielsweise) in West-Berlin der BRD-§175 weiterhin seine Gültigkeit beibehalten, in Ost-Berlin aber nicht neu eingeführt werden solle. Während zweieinhalb Jahren galt demnach zweierlei Recht in derselben Stadt (!). Erst im Sommer 1993 kam es zur Angleichung.

Am 10. März 1994, 200 Jahre nach seiner Einführung in Preussen, wurde der §175 für das gesamte Gebiet des wieder vereinten Deutschland ersatzlos gestrichen.

Er hat Zehntausende von Opfern gefordert und unsagbares Leid über sie und ihre Angehörigen gebracht. Ein junger Mann von heute, Silvan Schönbächler aus dem Kanton Schwyz, beschloss 2005 seine Matura-Arbeit zum Thema "Nationalsozialistischer Terror gegen homosexuelle Menschen" mit den Worten:

"Von dem Trauma, das dieser Paragraph besonders in den Jahren 1935 bis 1945 - und sogar weiter bis 1969 - in den Köpfen [...] hinterlassen hat, haben sich homosexuelle Opfer nur schwer erholt. [...] Somit kann man durch Auswirkungen und Nachwirkungen des §175 von einer indirekten Opferzahl sprechen, die weit über die Millionengrenze geht."

Abschliessend noch ein Wort von Thomas Mann1:

"Eine solche Plumpheit von Gesetzesbestimmung wie der §175 mit seinem unwissend moralischen Begriffsgeschwätz von 'widernatürlicher Unzucht' [...]. Solche Handlungen, die den Staat nicht das geringste angehen, mit Gefängnisstrafe zu bedrohen und so dem Erpressertum, das ihm doch auch wieder nicht recht ist, gute Tage zu bereiten - ist eine linkische Art, wie mir scheint, seinen Sinn fürs Sittliche zu erweisen."

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Ernst Ostertag, Februar 2006

Quellenverweise
1

Gotthard Feustel, Die Geschichte der Homosexualität, Patmos/Albatros Verlag, Düsseldorf, 2003, Seite 136.