Düstere Lage
Karl Meier brachte einen kurzen Rückblick auf das Herbstfest und verband ihn mit einem sehr ernsten, ja pessimistischen Artikel zur Lage am Übergang in eine düstere, unsichere Zukunft im kommenden neuen Jahr. Die Liga war kraftlos geworden, die politischen Zustände im Land wiesen auf zunehmende Verhärtung und die gefährlichen Diktaturen Europas gewannen unaufhaltsam an Macht und Einfluss - auch bei uns. Diesem Artikel gab er den Titel "Fünf Minuten vor Zwölf!" Daraus einige Abschnitte:1
"[...] 'Als ich vor fast zwei Jahren meine Flugschrift in das tobende Geheul der gegen uns rasenden Tage warf, glaubte ich mit ihr die Verzweifelten und Verscheuchten ihrer Mutlosigkeit entreissen zu können. [...] Heute weiss ich: es gibt keine ernsten Freunde dieser Sache, gibt sie nicht in der Anzahl, mit der in diesem Kampf auf Tod und Leben gerechnet werden könnte! [...]'
Diese Worte, die wie keine andern in die augenblickliche Situation unserer Sache hineinleuchten, schrieb Sagitta2 im Oktober 1909 nach einem verlorenen Kampfe.
Es gibt also nichts Neues unter der Sonne; alles wiederholt sich auch in unseren Reihen. Man wäre der Mühe enthoben, weitere Worte zu verlieren, wenn nicht noch eine kleine Zahl bedingungslos ausharrte. Das bewies unser letztes 'Herbstfest', das einen schönen Kreis unserer Abonnenten vereinigte und in aller Entmutigung eine selten zuversichtliche und frohe Stimmung aufkommen liess. [...]
Die gegenwärtige Situation ist bitter ernst. Die bekannten Sittlichkeitsskandale haben in der öffentlichen Meinung eine Strömung geschaffen, die sich katastrophal auswirken kann. [...] Hinter der sensationslüsternen Berichterstattung steht ein System, das nur ein Denkfauler übersehen kann: man sucht Material gegen das kommende schweizerische Strafrecht. [...] Man wiederholt die plumpe Formulierung 'homosexuell' so oft - wem würde es einfallen, zwischen Mann und Frau ständig das Wort 'heterosexuell' anzuführen! - bis im Denkbild der Allgemeinheit nur noch die Vorstellung Homosexualität = Knabenschändung haften bleibt und fraglos im gegebenen Moment auch seine Wirkung tun wird. [...]
Wo ist ein Weg aus dieser chaotischen Lage? Er kann immer und immer wieder nur heissen: Zusammenschluss der Kampfwilligen. [...] Schweizerische Wissenschafter von Weltruf haben das eidgenössische Strafrecht geschaffen - an uns allen liegt es, damit es Wirklichkeit werde! Diese gerechtere Wirklichkeit kann aber nur geschaffen werden, wenn Verbrechen, Hass und Dummheit sie nicht zum Zerrbild machen, bevor sie durch den Willen des Volkes realisiert ist. [...] Die Gefahr zur Beschneidung alt-schweizerischer demokratischer Rechte lauert an allen Ecken und Enden - und keiner gebe sich der trügerischen Meinung hin, dass sie an uns vorübergehen werde. Die Wirklichkeit ist brutal und hat für ein tieferes Gefühl wenig Raum."
Am 1. Dezember war das StGB im Parlament endlich verabschiedet worden - aber sofort begannen die Gegner mit ihrem Referendum und niemand bezweifelte, dass sie es zustande bringen würden.
Wichtig war gerade jetzt die gemeinsame Weihnachtsfeier. Sie fand am 19. Dezember ab 16.00 im Klublokal ab statt und endete mit einem anschliessenden festlichen Essen für Mitglieder und Gäste.
Ernst Ostertag, August 2004
Weiterführende Links intern
StGB, das liberale Strafgesetz
Zusammenstehen in düsteren Zeiten, Newsletter 92, September 2017
Quellenverweise
- 1
Karl Meier unter dem Pseudonym Karl Pfenninger: Menschenrecht, Nr. 16/1937
Anmerkungen
- 2
Pseudonym von John Henry Mackay, deutscher Schriftsteller (1864-1933), der unter Sagitta sowohl Gedichte wie Novellen ("Der Puppenjunge, Geschichte einer namenlosen Liebe") veröffentlichte