1959

Thema "Stricher"

"Leitfaden für jugendliche Verbrecher", "Das Opfer" und "Tiergartenballade"

Niemand ahnte, dass dieses Herbstfest 1959 das letzte in der Eintracht am Neumarkt sein sollte.

Die 1958 begonnene Repression warf bereits unmissverständlich ihre Schatten auf den Anlass vom 3. Oktober.

Unter dem Titel "In eigener Sache" berichtete Karl Meier / Rolf, das Theaterprogramm zu realisieren wurde1

"diesmal eine besonders schwierige Aufgabe, weil für die längst vorliegende Dramatisierung der reizenden Kurzgeschichte 'Tante Anna und Onkel Joe' von Clarkson Crane nicht genügend Darsteller aufzutreiben waren und ich selbst durch meine Verpflichtung am [...] Zürcher Theater in meiner Mitwirkung und Regie-Arbeit behindert war."

"Tante Anna und Onkel Joe" erschien in der Zeitschrift bereits 1957, illustriert mit drei Zeichnungen von Rico und übersetzt von Rudolf Jung / Rudolf Burkhardt2.

In seinem Rückblick auf das Theaterprogramm des Herbstfestes ("In eigener Sache") nahm Karl Meier Bezug auf die beiden tragischen Morde von 1957, die Strichjungen ausgeführt hatten:

"[...] Die Ereignisse der letzten Jahre in der Schweiz veranlassten mich, ein Experiment zu wagen: die inneren Situationen des amoralischen Strichjungen und des der Gesellschaft gegenüber sehr vorsichtigen und dennoch sich immer wieder der Gefahr aussetzenden Intellektuellen zu zeigen. In der Art des epischen Theaters, in der der Darsteller wohl spielt, sich aber auch gleichzeitig kommentiert und mit dem Publikum spricht, schien mir der Weg mit einem Minimum an Aufwand, wenn auch einem Maximum an Konzentration, für uns gangbar zu sein. Der Text für den Strichjungen lag bereits vor: ich hatte ihn in der angedeuteten Form anlässlich der Verurteilung des Mörders von 'Mail' im Heft 4/1956, Seite 12 veröffentlicht."

Die "Affäre von 'Mail' bei Neuchâtel" wurde zusammen mit etlichen Kommentaren im Heft vom April 1956 behandelt3. Der minderjährige Mörder kam lediglich mit einer bedingten Strafe von fünf Monaten davon. Dieses skandalöse Urteil regte Karl Meier damals zu seinem verächtlich die Tat kommentierenden Selbstgespräch eines Homo-Totschlägers an, welches er unter dem Titel "Katechismus für Minderjährige oder Leitfaden für jugendliche Verbrecher" ins Heft setzte4.

In seinem Rückblick "In eigener Sache" fuhr Karl Meier / Rolf fort:

"So blieb noch die Szene des Opfers, die dann vor fünf Wochen [...] entstanden ist. Dem Wunsch mancher Festbesucher entgegenkommend, habe ich nun auch diesen Monolog in unserer Zeitschrift festgehalten."

Auf Karl Meiers Stricher-Text "Leitfaden für jugendliche Verbrecher", den er selber vortrug, folgte dieser szenische Monolog "Das Opfer". Auch ihn sprach Karl Meier selbst. In vier Teilen liess er die innere Stimme eines Mannes hören, der sich entschliesst, seinen freien Abend im Park auf der Suche nach Sex und Liebe zum kleinen Abenteuer werden zu lassen. Das Abenteuer allerdings führt zunächst auf die Strasse, dann in die Büsche des nahen Parks. Dort endet es im Tod5.

Ein dritter Monolog behandelte dasselbe Thema. Nur sprach diesmal nicht das Opfer, sondern der Stricher. Röbi Rapp spielte ihn und der Titel hiess "Die Tiergartenballade". Karl Meier hatte diesen Text um 1930 als Monolog eines arbeitslosen Ganoven im Berliner Stricherrevier, dem Tiergarten-Park, verfasst. Dort sucht der Junge im Gespräch mit seinem Freier nichts anderes als die Nähe zu einem Menschen und vielleicht sogar etwas Liebe. Aber der Freier zögert, was beim Stricher Verzweiflung und Wut auslöst. Er spürt die Verachtung durch den "noblen Herrn". Das bringt ihn so in Rage, dass die tödlichen Schüsse fallen. Nun stellt er sich - selber am Ende - dem nahenden Polizisten: "Jetzt noch das Beil, dann is' es aus."

Röbi brachte - nach intensiver Probenarbeit - diese Ballade erstmals auf die Bühne. Und Karl Meier, der wie üblich alle Proben leitete, schrieb im Oktober-Heft (S. 15):

"Der Widerhall der Aufführung war ungewöhnlich stark; sie stellt auch den Zuhörern ein ausgezeichnetes Zeugnis aus. Es ist mir ein Bedürfnis, Röby [Röbi Rapp], der sich erstaunlich mit seiner schwierigen Rolle abgefunden hat, dem Bühnenbildner Bertl [Albert Knöbel], dem Tonbandmeister und den unsichtbaren Helfern hinter der Bühne aufrichtig zu danken. [...] Meine Anerkennung gilt auch allen übrigen Mitwirkenden im Mitternachtskabarett: Michael, Richard [Richard Frick], Fred, den Berner Kameraden und den Pianisten Lysis [Nico Kaufmann] und Bibo. [...]"

Aus Briefen wurden "Stimmen zum Herbstfest" im selben Heft publiziert6:

"Was [...] angenehm aufgefallen ist: das Tantenwesen ist verschwunden. Dafür war überall eine echte kameradschaftliche Verbundenheit spürbar. Ihre lange und beispielhafte Erziehungsarbeit beginnt Früchte zu tragen."

"Dieses Herbstfest ist Dir am wenigsten gelungen. Es war ohne Farbe, blieb ohne den früheren Übermut [...] ich bin mit meinen Freunden früh nach Hause gegangen."

"Ihr Herbstfest hatte wieder etwas so Erfrischendes und es gab mir eine solche Lebenszuversicht mit nach Hause, dass ich Ihnen nie genug dankbar sein kann."

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Ernst Ostertag, Mai 2005

Quellenverweise
1

Der Kreis, Nr. 10/1959. Seite 15

2

Der Kreis, Nr. 5/1957, Seite 6 ff, Übersetzung von Rudolf Jung unter dem Pseudonym Rudolf Burkhardt

3

Der Kreis, Nr. 4/1956, Seite 13 bis 15

4

Der Kreis, Nr. 4/1956, Seite 12

5

Der Kreis, Nr. 10/1959, Seite 13 ff

6

Der Kreis, Nr. 10/1959, Seite 16