1911-1957

Ernst Rusterholz: zweites Opfer 1957

Diesmal, nur gut sechs Monate später, war das Opfer ein Durchschnittsbürger, den nur wenige näher kannten. Betroffenheit oder gar Schock, wie in der Musikwelt nach Oboussiers Tod, das gab es jetzt nicht.

Auch der Täter war anders, kein "Heimkind" mit "Vergangenheit". Er war ein unbescholtener Fremder aus dem Bergamaskischen, also fast ein Tessiner. "Er handelte aus Notwehr", das war in der Presseberichterstattung bereits vor Abschluss der polizeilichen Ermittlungen eine "Tatsache". Und ebenso rasch steckte das eigentlich Böse am ganzen Geschehen in der Person des erschlagenen Verführers, der ja sozusagen ein Vergewaltiger war. Dass er juristisch als ebenso unbescholten zu gelten hatte wie der Mörder vor seiner Tat, das wurde verdrängt oder ging "vergessen".

Die Aufklärung der Mordtat erfolgte rasch. Und sie erfolgte durch einen Zeugen, der Abonnent des Kreis war. Dieser orientierte an den KREIS-Mittwochtreffs regelmässig über alles, was er den untersuchenden Beamten mitgeteilt hatte und was dann weiter geschah.

Er wurde zum Kronzeugen des im April 1959 durchgeführten Prozesses. Davon erzählte er mit Wut und Abscheu. Denn Medienvertreter beschimpften ihn als Gefährten des Ermordeten, der nur aus Eifersucht die Polizei benachrichtigt habe, weil der Stricher nicht mit ihm gegangen sei und - was ihn am meisten empörte - all das hätten Polizisten und Gerichtsbeamte gehört ohne einzuschreiten. Seine Botschaft: Es melde sich keiner mehr als Zeuge! - Das wurde auch beherzigt. Der nächste Mord im Milieu geschah 1961; er wurde nie aufgeklärt.

Allerdings erschienen nun auch kritische Leserstimmen, die vor einer gefährlichen Entwicklung warnten. Es gehe nicht an, Opfer schuldig zu erklären nur, weil sie homosexuell seien. Und Karl Meier / Rolf schrieb dazu im Kreis, mit Anschuldigungen wie jene gegen den Zeugen im Prozess erweise die Presse gegenüber der Polizei den denkbar "schlechtesten Dienst".

Das Urteil im Prozess war eine Beugung der Justiz. Mit der Untersuchungshaft hatte der Mörder seine Strafe abgesessen und verliess das Gericht als freier Mann. In der Presse erschien ein Titel "Sieg der Menschlichkeit". Damit wurde das Mordopfer recht eigentlich verhöhnt. Doch kaum jemand zog diesen Schluss. Ausser der Kreis. Die Reaktion in der Zeitschrift war eindeutig. Und zugleich erfolgte ein mutiger Schritt hinaus in die Öffentlichkeit. Der Kreis verschickte eine "Klarstellung" an "alle wesentlichen Schweizer Zeitungen". Man hoffte auf Besonnene im Land und wollte aufklären. Doch ein illusionsloser Kamerad sah das anders und schrieb, ebenfalls publiziert im Kreis, von der "seit Jahrtausenden" geltenden "Sünde des Fleisches", die jeder Aufklärung ein instinktives Nein entgegensetze: "Man will gar nicht aufgeklärt werden."

Für die Wahlen von 1958 und 1959 (Stadt und Kanton Zürich) stellte die Christlichsoziale Partei (heute CVP) den Kampf gegen die "Gefährdung der Jugend" durch die "Seuche der Homosexualität" ganz zu oberst auf ihr Programm und forderte eine "moralisch kerngesunde, frohe und sportlich-rassige Jugend" und keine "Bar- und Dancing-Fans".

In aussergewöhnlicher Schärfe wehrte sich die Kreis-Redaktion gegen diese populistische Kampagne, indem sie die Zuschrift eines Zürcher Katholiken publizierte und auch selber mit dem Vergleich von Gerichtsurteilen die verkommene, verdrehte Lage in Zürich geisselte.

1967, zehn Jahre später, wurde ein weiterer Homosexueller Opfer eines Mörders. Zu diesem Mordfall veröffentlichte eine gewisse Presse noch immer Verleumdungen, die einer Hetze gleichkamen. Der Getötete war Lehrer in Zürich und der für alle Schulen zuständige Stadtrat erklärte, Homosexuelle würden nie gewählt, wenn man davon wisse. Die Herausgeber des Kreis reagierten nicht mehr. Sie hätten es bestimmt getan, aber Zeitschrift und Organisation waren am Ende. Auch sie Opfer des Unverstandes und der Repression.

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Ernst Ostertag, April 2012