1960

Auseinandersetzung

... im Kreis

Von diesem ebenso polarisierenden wie faszinierenden Dichter Jean Genet (1910-1986) erschien im deutschen Teil des Kreis nie ein Text.

Erst nach Veröffentlichung seines ersten Romans von 1944, "Notre-Dame-des-Fleurs" in einer eher plump übersetzten deutschen Erstausgabe 1960 (die von der Zensurbehörde für den schweizerischen Buchhandel zugelassen wurde), begann im Kreis eine engagierte Diskussion, die sich über drei Hefte hinzog. Sie wurde im Mai von Karl Meier / Rolf mit dem Aufsatz "Ein entschiedenes Nein" gestartet.1

Diesem Nein folgte in der nächsten Nummer auf mehr als fünf Seiten "Ein entschiedenes Ja!" von W.F. aus Deutschland - mit anschliessendem Kommentar von Karl Meier2. Im Juli äusserten sich dazu mehrere Leser auf weiteren fast vier Seiten3.

Für Abonnenten, die den französischen Teil lasen, war Genet kein Unbekannter. Karl Meier, der nur wenig französisch sprach, nahm die erste allgemein zugängliche deutsche Publikation zum Anlass, diesem bei vielen Abonnenten beliebten und bei anderen umstrittenen Autor nicht länger mit Schweigen zu begegnen.

Genets dritten und rasch bekanntesten Roman "Querelle de Brest", erschienen 1947, gab es seit 1955 in guter deutscher Übersetzung. Allerdings konnte man das Buch nur unter der Hand erwerben. Das taten viele.

Die Repression gegen die Schwulen erreichte 1960 einen Höhepunkt. Jeder unserer Gegner, der Deftiges zur "Kloake der Homosexuellen" suchte, fand in "Querelle de Brest" alles, was er brauchte. Die Angst schränkte vielen den Blickwinkel ein. Scheinbar, und vor allem für recht viele Abonnenten des Kreis, entzog dieser Roman dem angepassten, schöngeistigen Homoeroten den Boden, auf dem er stand - oder sicher zu stehen glaubte. Dabei war dieser Boden durch die Ereignisse rundum und unsere allgegenwärtige Verunsicherung bereits mehr als brüchig geworden. Aber wo sonst als in unserer KREIS-Gemeinschaft sollte man etwas Zusammenhalt finden?4

Unter normalen Umständen hätte "Querelle" ein packend wahrer Spiegel der verdrängten Abgründe homoerotischer Träume sein können. Denn als das galten Genets Werke uneingeschränkt - im Kreis der Bewunderer.

Ernst Ostertag, April 2005

Quellenverweise
1

Der Kreis, Nr. 5/1960, Seite 11

2

Der Kreis, Nr. 6/1960 ab S.10

3

Der Kreis, Nr. 7/1960 ab S.5

Anmerkungen
4

Im Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft, Hamburg fand Beat Frischknecht den folgenden Briefwechsel zwischen Karl Meier / Rolf und Kurt Hiller, der Abonnent, gelegentlicher Mitarbeiter und Autor im Kreis war:

Rolf an Kurt Hiller, 10. März 1960:

"Weisst du, dass von Genet 'Notre-dames-des-fleurs' ins Deutsche übersetzt und jetzt in Deutschland verkauft wird? Ich werde dazu wahrscheinlich im Aprilheft Stellung nehmen. Auch dieses Buch halte ich im Moment für Deutschland sehr gefährlich, weil es ausschliesslich unter amoralischen Menschen, d.h. im Sumpf von Paris spielt und 'Schwanz' und 'steife Rute' ständig wiederkehrende Lieblingsworte des Autors sind."

Rolf an Kurt Hiller, 15. Juni 1960:

"Du wirst im Juniheft die intelligente Kritik meiner Kritik an Genets Buch bereits gelesen haben. [Karl Meier / Rolf bezog sich damit wohl auf das "Entschiedene Ja!" in der Mai-Ausgabe Nr.5/1960.] Soll ich Deine Zustimmung zu mir, die Du auf Deiner letzten Postkarte formuliertest, so im Juliheft drucken oder soll ich es bleiben lassen?"

Hillers Stellungnahme auf einer Postkarte lautete offenbar:

"Dein Anti-Genet ist grossartig richtig. Bravo! Bin hier, gerade hier, restlos auf Deiner Seite. Uebrigens halte ich von Sartre und Picasso nicht allzuviel und von Monsieur Cocteau, diesem Leerläufer und geschäftigen Snob, nichts."

Rolf an Kurt Hiller, 24. Oktober 1960:

"Über Genet todeinig - verstehe ich nicht ganz, dass auch Du das Buch besprechen willst. Es war im Kreis doch bereits eine grosse Kontroverse - mehr Ehre möchte ich dem Buch, das für mich in Gottesnamen ein Brechmittel bleibt, nicht antun."