Verwirrspiel

Unter dem Namen R. Gérard brachte Eugen Laubacher / Charles Welti 1966 ein Interview in die Zeitschrift1, das, so die einführenden Worte des Redaktors, der bekannte Schriftsteller Germain-Delafont einem noch sehr jungen Journalisten gegeben habe. Dieser arbeitete für eine nicht genannte Literatur-Zeitschrift, in der das Interview erscheinen sollte. Doch der fertige Text sei als "inacceptable!" zurückgewiesen worden. Nun habe R. Gérard die Zustimmung des Schriftstellers für eine Publikation im Kreis erhalten. Sehen wir uns das Interview an, um danach mehr über den Verfasser und den Befragten zu erfahren:

Am Anfang geht es um den neuen Roman des Schriftstellers. Die Frage nach dessen Inhalt beantwortet er genüsslich, weil er sieht, wie leicht der junge Reporter errötet: Zwei frisch verheiratete befreundete Ehepaare mieten gemeinsam eine Villa am Meer, um dort Ferien zu verbringen. Eines Tages werden die beiden Männer beim Fischen von einem Gewitter überrascht. Sie fliehen in ein nahes Hüttchen. In diesem Unterstand berühren sich ihre Körper. Langsam entsteht ein sexuelles Spiel, das unerwartet heftig wird. Später, ganz unbekümmert, erzählen sie ihren Frauen davon. Doch die machen daraus einen Skandal, der schliesslich die Ferien und die Freundschaft und die beiden Ehen zerstört. Im Folgenden erklärt der Schriftsteller seinem Reporter-Gast den Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe von Männern mit Frauen und von Männern mit Männern. Irgendwann bemerkt er auch, er selbst sei bisexuell, und sein Wissen gründe auf eigenen Erfahrungen. Dabei entwickelt er für seine Zeit höchst unkonventionelle Ansichten: So seien Frauen mit ihrer Art zu denken und zu fühlen in anderer Weise selbst- und eigenständige Menschen als Männer. Die Lebenspartnerschaft zwischen zwei Männern oder zwischen Mann und Frau führe auf sehr unterschiedliche Weise zu einer funktionierenden Gemeinschaft. Natürlich überfordert er dabei seinen Gesprächs- und Interviewpartner, der schliesslich die Befragung abbricht:

"Reporter: Je… je dois arrêter ici cette interview. Je ne pensais pas vous amener si loin sur ces questions… Pardonnez-moi, je suis un peu… dérouté. Revenons, si vous voulez, sur un terrain moins dangereux pour mon reportage, plus classique: parlez-moi de votre prochain roman.

R.G.D.: Il n'est qu'ébauché, j'ai besoin de réfléchir pour le mener à bien. Je vous en parlerai quand vous reviendrez me voir. Car nous nous reverrons, n'est-ce pas? J'aime votre façon de rougir et d'être scandalisé… "

So endet das Interview. Allerdings lässt der Redaktor seine Leser nicht so abrupt im Ungewissen sitzen. Er fügt eine abschliessende Pointe hinzu, in der R. Gérard von seiner Begegnung mit dem Schriftsteller berichtet: Der Reporter, "un beau et charmant garçon", sei nach der Zurückweisung seines Interviews bald nicht mehr bei der bekannten Literatur-Zeitschrift tätig gewesen. Ob diese Zurückweisung Grund des Rücktritts war oder nicht, entgehe seiner Kenntnis. Hingegen, als er den Schriftsteller R.G.D. aufgesucht habe, um die Erlaubnis zur Veröffentlichung (im Kreis) einzuholen, habe er dort den jungen hübschen Journalisten angetroffen, als Privatsekretär von "Monsieur Raoul Germain-Delafont".

Voilà! Was dem aufmerksamen Kreis-Leser in die Augen stach, waren die Buchstaben R.G.D., die er von den meisten Besprechungen französischer Bücher kannte und nun wusste, dass ihr Verfasser identisch mit dem interviewten Schriftsteller ist. Zum Ende des Kreis, im Abschiedsbericht "En guise d'adieu" öffnete der Französisch-Redaktor den Vorhang weiter, indem er sagte, dass R. Gérard und R.G.D. die gleiche Person bezeichnen. Demnach stammten die im Interview geäusserten Erkenntnisse und Einsichten über gegen- und gleichgeschlechtliche Liebe, über Bisexualität und die unterschiedlichen Qualitäten von mann-männlicher oder mann-weiblicher Partnerschaft von diesem einen und selben Mitarbeiter der Zeitschrift.

Ernst Ostertag, Februar 2018

Weiterführende Links intern

R. Gérard Doscot, Vier weitere Künstler

Quellenverweis

1

Der Kreis, Nr. 3/1966, Seiten 22-27.