1942/1943

In Russland

Als Pfleger im Osten

Karl Meier / Rolf sei immer sehr zurückhaltend gewesen, erzählte Fredi Brauchli. Er habe ihn zwar zu den Treffs der Abonnenten des Menschenrecht mitgenommen, aber niemandem sagen wollen, dass sie

"etwas miteinander haben. Er war furchtbar streng! Erst an der Weihnachtsfeier 1942, als ich in Russland war, stellte er mein Foto auf, damit alle an mich denken konnten."

In jenem Jahr hatte sich Fredi zur "Schweizer Ärztemission" gemeldet, die dem Schweizerischen Roten Kreuz unterstand und als humanitäre Hilfe für die besetzten Teile Russlands organisiert wurde. Es war auch Pflegepersonal gesucht.

Es gab mehrere solcher "Missionen", die erste startete bereits am 15. Oktober 1941. Sie galten als Einsätze im Sinn der Tradition des Roten Kreuzes und wurden darum vom nationalen Komitee des Schweizerischen Roten Kreuzes organisiert. Aber diese Einsätze waren politisch umstritten, weil sie nur auf der einen Seite der Front stattfanden - es gab keine Einsätze auf sowjetischer Seite - und daher der international anerkannten Neutralität der Schweiz nicht voll entsprachen. So sahen es die Kritiker. Fredi selber äusserte sich uns (Röbi Rapp und Ernst Ostertag) gegenüber, dass er mehr habe lernen können als im Aktivdienst in der Heimat und zugleich sei er überzeugter Pazifist geworden. "Krieg ist das Entsetzlichste, was es gibt."

Fredi stand vom November 1942 bis März 1943 im Einsatz bei der dritten "Schweizer Ärztemission". Er erlebte dabei - gelegentlich sehr nah an der Front - zunächst in Rostow am Don und nach der Niederlage von Stalingrad bei Dnjepropetrowsk am Dnjepr (Ukraine) die Leiden der Kriegsopfer, allerdings fast ausschliesslich jene der deutschen Wehrmachtsangehörigen.

Die Rückzüge von 1943, in deren Wirren er einmal von "einer russischen Patrouille überrascht" wurde, "was die Lebensmittelvorräte kostete", brachten ihn schliesslich nach dem polnischen Krakau,

"die erste unversehrte Stadt, die wir sahen, denn offenbar wollten die Deutschen nicht, dass wir Zeuge ihrer dauernden Niederlagen wurden. Im schönen und interessanten Krakau hatten wir nichts zu tun - und nach Hause fahren war unmöglich, solange dazu kein Befehl vom Roten Kreuz vorlag. Es war uns langweilig, also fragten wir, ob man uns nicht irgendwo einsetzen könne. Die sagten aber nur, das einzige, was sie für uns hätten, sei uns nicht zuzumuten. Wir wurden dann doch zugelassen, weil sie vermutlich zu wenig eigene Leute hatten, nämlich zum Entlausen von zurückgeschobenen Verwundeten. Auch Zivilisten (Flüchtlinge) waren darunter. Fast alle ihre Kleider waren verfilzt von Nestern und ganzen Kolonien von Läusen. Meist konnten wir die Klamotten nur noch verbrennen. Unter den Gipsverbänden, die wir aufschnitten, wimmelte es, da waren Gänge noch und noch. Alles musste behandelt, gewaschen, desinfiziert und neu verbunden werden, endlos."

Fredi hatte einen Fotoapparat bei sich und schoss heimlich Bilder; offiziell war es verboten. Ein paar davon sind noch in einem Album mit geschnitztem Holzdeckel samt Widmung eines Freundes aus Krakau vorhanden. Er schenkte uns dieses Album wenige Monate vor seinem Tod.

Zurück in der Schweiz setzte er die Ausbildung an der Anstalt für Epileptische in Zürich fort. In seinem "Dienstbüchlein" ist auf Seite 28 die Teilnahme an der Ärztemission als Urlaub von vier Monaten (16. November 1942 bis 13. März 1943) vermerkt. Der Russlandeinsatz galt also nicht als Dienst in der Armee.

Von 1939 bis 1945 sind im Dienstbüchlein 699 Tage Aktivdienst eingetragen, darin enthalten die Diensttage vom 2. Oktober bis 4. November 1942, also bis kurz vor dem Einsatz in Russland und jene vom 31. März bis 3. Mai 1943 fast direkt nach diesem Einsatz. Stets stand er als Sanitätssoldat bei der Sanitätskompanie I/7, Thurgau, im Dienst.

Foto rechts: Nach der verlorenen Schlacht um Stalingrad. Angehörige der Schweizer Ärztemission und ein Deutscher Offizier. Heimliche Aufnahme von Fredi Brauchli mit Notiz auf der Rückseite: 'Die letzten Minuten vor dem Kriegslazaret 3/685 in Rostow'.

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Ernst Ostertag, Februar 2006, ergänzt: Mai 2010