Zwang zum Ghetto

... und Bedeutung als Ersatz-Heimat

Der von vielen als "übervorsichtig" beurteilte und auch häufig belächelte Karl Meier wusste immer um die Gratwanderung, die er ging, und um ein plötzliches Scheitern, weil eine offene Rechtfertigung oder Zurückweisung von Behördenwillkür unmöglich war und nur Öl ins Feuer gegossen hätte. Die Reaktion wäre klar gewesen:

"Schaut her, jetzt werden die Homosexuellen frech und wehren sich!"

Das Ganze wirft auch ein Licht auf das Phänomen Homosexuellen-Ghetto.

Von aussen her wurde es geduldet, unter den bekannten Voraussetzungen. Zudem spielte die Überwachung perfekt. Gewisse "anständige" Homosexuelle im Ghetto zu haben, war einfacher, als sie daraus zu vertreiben, denn dies hätte das Abtauchen dieser Leute in den schwierig kontrollierbaren "Untergrund" zur Folge gehabt.

Von innen war das Ghetto, wie Karl Meier / Rolf es ausdrückte, der Ort, "um die Vereinsamung so vieler Homoeroten aufzuheben". Denn Homosexuelle wurden in jenen Zeiten von ca. 1938 bis 1958 zwar nicht verfolgt, aber auch nicht bewusst als Menschen wahrgenommen: weder im gesellschaftlichen oder beruflichen Leben noch in der eigenen Familie. Was nicht sein durfte, konnte auch nicht sein.

Die Folge war das kontinuierliche Hineinwachsen ins perfekt geführte Doppelleben, angefangen mit dem eigenen Erkennen dieser Veranlagung. Und das begann oft schon mit 12 Jahren. Zugleich wuchs die Sehnsucht nach ungestörtem Zusammensein mit Gleichfühlenden. Und nach Möglichkeiten, einmal als Mensch normal und frei leben zu dürfen, wenn auch nur für einen Abend. Es ging um das menschliche Bedürfnis, andere kennen zu lernen, nicht nur für Sex, sondern zum Austausch von Erlebnissen und Erfahrungen, vielleicht bei Musik und Tanz.

Der KREIS bot dieses Ghetto und das Ghetto wiederum prägte die lockere Gemeinschaft seiner temporären Bewohner. Man zählte sich zu den Besseren und verachtete (nicht ganz ohne heimlichen Neid) jene Promiskuitiven, die notorischen Klappengänger und Jäger auf freier Wildbahn durch gewisse Parkanlagen. Zudem hielt man sich an der Illusion fest, Liebkind der Behörden zu sein. Denn es war intern bekannt - und wurde gerne Neulingen übermittelt -, dass der KREIS ein gewisses Ansehen von jener Seite genoss.

Vieles entsprach eben der typischen Ghetto-Mentalität, die stets in ähnlichen Mustern verläuft, wenn Menschen in ein solches gedrängt werden.

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Ernst Ostertag, Juni 2008