1967

Leserbrief: zweite Sendung

20. Februar 1967

Mit Sicherheit wurden alle Stellungnahmen im Kreis der Fernsehredaktion zugeschickt. Aber offenbar gab es auch viele absolut negative Äusserungen. Denn in der zweiten Sendung blieben die "Experten" wieder unter sich, abgesehen von einzelnen Telefonanrufen, und der Ton vor allem des Juristen hatte sich versteift und verschärft. So verzichtete der KREIS auf eine erneute eigene Stellungnahme, veröffentlichte aber den aufschlussreichen Brief eines Abonnenten an den Arzt, Herrn Peter Mohr, Direktor der aargauischen "Heil- und Pflegeanstalt" Königsfelden1:

"Für Ihre grossartige menschliche Einstellung in der Diskussion [...] möchte ich, als Betroffener, herzlich danken. Nachdem die ganze Sendung vom eigentlichen Thema weggerückt ist, nur noch von der Verführung Minderjähriger und von Strichjungen die Rede war, ihr Gesprächspartner Dr. jur. Züst ein anderes Gesicht gezeigt hat und in seiner Sturheit vom letzten Fragesteller [per Telefon] wacker unterstützt worden ist, nachdem das erschütternde [telefonische] Bekenntnis des Homoeroten ins Leere verhallte, fürchte ich, dass Sie mit Ihrer grossen Menschlichkeit auf der Strecke bleiben werden. Die fragwürdige Gesellschaft wird siegen. [...]

Dass Sie die [...] irrige Meinung, Strichjungen seien von Homosexuellen verführt und geformt worden, klar widerlegt haben, war eine besondere Freude, obschon diese Erklärung eher ignoriert worden ist; allzu gerne überhört man sie. [...] Wer nicht mit Scheuklappen herumgeht, weiss, dass der Grossteil der minderjährigen Burschen sexuelle Beziehungen zum anderen Geschlecht hat. Sie können Mädchen schwängern und geistig unreif Ehen eingehen, um nachher die Lasten den Fürsorgebehörden zu überlassen. Was soll der 18jährige Homosexuelle tun, besonders, wenn er sich zu einem väterlichen Freund hingezogen fühlt? Er kann den älteren Freund höchstens ins Gefängnis bringen. [...]

Die Wissenschaft stellt fest, dass die Geschlechtsrichtung mit dem 16. Altersjahr (viele Forscher glauben schon früher) bestimmt sei und dass zur Homosexualität eigentlich nicht verführt werden könne, eine Veranlagung müsse schon vorliegen. [...]

Man komme doch einmal auf den Grossteil der verantwortungsvollen Homosexuellen zu sprechen. Wenn das Thema [Heterosexualität] heissen würde, wäre es kaum gegeben, nur von den Verführern Minderjähriger oder von den Dirnen [...] zu sprechen. [...]

Ich litt mein ganzes Leben lang unter meiner Veranlagung, und wenn mir auch viele Menschen mit Achtung begegnen, fühle ich mich doch in der Gesellschaft immer als Mensch zweiter Klasse, obschon ich mein öffentliches Amt seit 30 Jahren ausübe und meine Arbeit allgemein anerkannt wird. Mit vorzüglicher Hochachtung und Hochschätzung, Ihr F.K."

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Ernst Ostertag, März 2005

Quellenverweise
1

Der Kreis, Nr. 3/1967, Seite 5