Erlebnis als Student
Ab Herbst 1953 verkehrte ich (Ernst Ostertag) regelmässig "in der Mary", wie man es damals nannte. Es ging mir hauptsächlich darum, mit erfahrenen, "seriösen" älteren Homosexuellen ins Gespräch zu kommen. Denn diese Schicht Männer traf sich dort, das war bekannt.
Als bald 24-Jähriger hoffte ich, in solcher Umgebung und bei solchen Menschen Perspektiven zu finden, die mir helfen mochten, mein eigenes Leben und meine Zukunft sinnvoll zu gestalten. Einen homosexuell empfindenden Vater oder sonst Verwandten hatte ich ja nicht. Und ich wurde nicht enttäuscht. In der Mary lernte ich nebst einigen Gleichaltrigen unter anderem auch Walter Boesch kennen. Es entwickelte sich eine jahrelange Freundschaft.
Für Mary typisch war wohl folgendes:
Als Student und später als Junglehrer, was ich aber verschwieg, war mein Taschengeld notorisch knapp und mit einem einzigen Bier konnte man kaum den ganzen Abend lang an der Theke stehen. So kam ich auf den Trick, mal einen Fernet-Branca mit Wasser zu bestellen. Alle dachten, es sei mir nicht gut und fragten nach. Patentlösung! Ich stand im Mittelpunkt, konnte Gespräche anknüpfen und entging erst noch der lästigen Frage nach einem weiteren Drink.
Doch Mary - und damit hatte ich nicht gerechnet - beugte sich, als sie am späteren Abend erschien, über die Theke, nahm meine Hand und fragte, ob mir übel sei, ich solle mit hinüber kommen, sie werde mir einen Tee kochen. In ihrem Stübchen beichtete ich den Grund, was sie mit Heiterkeit und einem Klaps auf die Wange quittierte:
"Sie schlaues Bürschchen, ich werde Sie künftig im Auge behalten müssen!"
Von da weg konnte ich mit nur einem Drink den Abend bestreiten - und war es Fernet, schaute sie prüfend hin und verzog dann den schmalen Mund zu einem zarten Schmunzeln.
Ernst Ostertag, Juni 2006