1967

Stellungnahme

... es braucht eine "Elite fähiger, einflussreicher und unabhängiger Männer"

Abonnent Nr. 1637, Peter aus Bern, verfasste am 31. Oktober 1967 eine wichtige, zukunftsweisende Stellungnahme:1

"Liebe Mitarbeiter des Kreis, lieber Rolf [Karl Meier]

In diesen düsteren Tagen, da das Licht der Ampel im Kreis zu erlöschen droht, drängt es mich, einige Worte grundsätzlicher Bedeutung an Sie zu richten, obschon ich erst verhältnismässig kurze Zeit Abonnent [...] bin.

Die Meinung, die im letzten Kreisheft in einem Leserbrief zum Ausdruck kam, scheint weit herum verbreitet zu sein: 'Lieber Rolf, die Zeit ist Ihnen vorangeeilt…'. In diesem Satz liegt eine schwerwiegende Fehlbeurteilung unserer Stellung innerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Es ist ein verhängnisvoller Selbstbetrug zu glauben, einige Lichtblicke kündeten bereits ein neues goldenes Zeitalter an [...]. Die zweitausendjährige Leidensgeschichte des homophilen Menschen hat vielmehr gezeigt, dass es zwar hin und wieder Zeiten der Duldung und des Verständnisses gab, die aber eh und je von umso stärkerer Verfemung und Verfolgung abgelöst wurden.

Das wichtigste Ziel, für das wir uns mit aller Kraft einsetzen sollten, ist weder erreicht noch gesichert: die Bedingungen zu schaffen, die es dem homophilen Menschen gestatten, seine schöpferischen Kräfte innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung frei von Furcht und Erniedrigung zu entfalten, zum Wohl der ganzen Menschheit, die gar nicht ahnt, wie viel sie den so sehr Bekämpften verdankt.

Der Kampf um die Anerkennung der homophilen Menschenrechte ist ein weltweites Problem, das nur auf internationaler Ebene befriedigend gelöst werden kann. [...]

Wenn sich nicht eine Elite fähiger, einflussreicher und unabhängiger Männer zusammenfindet, die bereit ist, diese [...] Auseinandersetzung [...] mit Energie und Wachsamkeit fortzuführen, werden kommenden Generationen neue Verfolgungswellen nicht erspart bleiben.

Es ist erstaunlich, mit welch widerspruchsloser Passivität durch die Jahrhunderte hindurch die Homophilen das unmenschliche Los der Ächtung hingenommen haben. In der Verkennung seines eigenen Wertes, im mangelnden Vertrauen in die eigene Kraft und Stärke liegt die Schuld und Schwäche des homophilen Menschen. [...]"

Diese Äusserungen könnten wörtlich einem heutigen Manifest des schweizerischen Vereins NETWORK oder der schwulen Dachorganisation PINK CROSS entnommen sein. Beide Organisationen sind fast dreissig Jahre später entstanden.

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Ernst Ostertag, März 2006

Quellenverweise
1

Dieser Brief - wie die bereits in "Zwei Briefe" zitierten - befindet sich ebenfalls als Kopie im Nachlass Eugen Laubacher / Charles Welti des sas, Schwulenarchiv Schweiz. Er trägt den Vermerk "publizieren" in Laubachers Handschrift, gelangte aber nicht zur Veröffentlichung.