1960
Tanzverbot: Nur für den KREIS
... und die Folgen
Nach dem verleumderischen Artikel in der TAT (27. Juni 1960) wiederholten andere Blätter die "Sensation" über den Homosexuellen-Club mit Strichjungen in einer der Stadt gehörenden Liegenschaft, der "Eintracht" am Neumarkt. Die allgemeine Stimmung war so, dass solche Schreibereien nicht mehr hinterfragt, sondern geglaubt und weiter kolportiert wurden. 10 Jahre lang an diesem Ort und zuvor 18 Jahre lang in anderen Lokalen behördlich bewilligte und nie beanstandete Treffen mit Tanz waren, wie es jetzt hiess, skandalöses Treiben, das durch blinde Behörden geduldet, ja in verantwortungsloser Weise gefördert werde.
De facto Tanzverbot, kein Herbstfest
Und die Behörden beugten sich dem Druck und der Verleumdung.
Der Finanzvorstand, Stadtrat Adolf Maurer (SP), beauftragte den städtischen Liegenschaftsverwalter, einen Bericht zur Frage von Homosexuellen zu verfassen, die sich in städtischen Liegenschaften treffen. Der Bericht, datiert vom 12. Juli 1960, gibt ein objektives Bild auch in beurteilenden Passagen wie beispielsweise:
"So unangenehm die Tatsache des Vorhandenseins solcher Kreise in dieser städtischen Liegenschaft ist, sind uns bis heute [...] nie [...] Klagen zugekommen."
Der Bericht liegt im Stadtarchiv. Er schliesst mit den Sätzen:
"Es stellt sich nun die Frage, ob angesichts der heutigen Verhältnisse die Zurverfügungstellung von Räumen an diese Kreise in der Eintracht inskünftig unterlassen [...] werden soll. Ich bitte den Stadtrat um neuerliche Weisung, ob er [...] auch heute noch die Auffassung vertritt, es sei am bestehenden Zustand nichts zu ändern oder aber, welche Massnahmen zu treffen er für richtig hält."
Im April 2013 fand der Historiker Rolf Thalmann jene Dokumente im Stadtarchiv, die das Tanzverbot für den KREIS belegen. Unter Nummer 1887 im Buch mit den Stadtratsbeschlüssen 1960 stehen zu "Wirtschaft zur Eintracht, Neumarkt 5/7, Zürich 1, Bälle der Homosexuellen" die folgenden Abschnitte. Sie beziehen sich auf das Protokoll der Stadtratssitzung vom 15. Juli 1960. Darin werden ganze Passagen aus dem Bericht des Liegenschaftsverwalters zitiert:
"Der Liegenschaftsverwalter machte seinerzeit mit Zuschrift vom 21. März 1951 [der KREIS begann Ende 1948 die "Eintracht" zu benutzen, anfänglich ohne Tanzabende] den Finanzvorstand darauf aufmerksam, dass sich jeweils Mittwoch und Samstags, teilweise auch Sonntags, in einem Saal des ersten Stockes der Wirtschaft zur Eintracht Leute aufhalten, die homosexuellen Kreisen angehören sollen. Es handle sich nicht nur um einige Personen, sondern die Besucherzahl betrage jeden Abend bis gegen Hundert. Ausserdem würden Tanzabende veranstaltet, an welchen nur Männer teilnehmen. Der Liegenschaftsverwalter hat damals die Frage aufgeworfen, ob die Benutzung der Liegenschaft durch diese Kreise weiterhin geduldet werden solle. Die Angelegenheit wurde im Stadtrat besprochen und dem Liegenschaftsverwalter mündlich durch den Finanzvorstand eröffnet, dass der Stadtrat die Meinung vertrete, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Dieser Beschluss erfolgte nicht zuletzt wegen der damit verbundenen besseren Kontrollmöglichkeit durch die Polizei.
Der Liegenschaftsverwaltung sind bis heute in all den Jahren nie irgendwelche Klagen zugekommen. Im Zusammenhang mit der kürzlich durch die Polizei durchgeführten Razzia in der Altstadt [gemeint ist die Grossrazzia "Punkt" vom 1./2. Juli 1960] wurde in der Zeitung die 'TAT' das Vorhandensein solcher Kreise in dieser städtischen Liegenschaft übel vermerkt. [...]
Dem Antrag des Polizeivorstandes [Stadtrat Albert Sieber, FDP], dem Wirt zur Eintracht, Emil Ribi, vorzuschreiben, dafür besorgt zu sein, dass künftig die Tanzveranstaltungen der Homosexuellen in der Wirtschaft zur Eintracht nicht mehr durchgeführt werden, wird mit fünf Stimmen zugestimmt, vier Stimmen fallen auf den Antrag, am bestehenden Zustand nichts zu ändern.
Der Stadtrat beschliesst:
1. Der Finanzvorstand wird eingeladen, dem Pächter der Wirtschaft zur Eintracht [...] durch die Liegenschaftsverwaltung vorzuschreiben, dafür besorgt zu sein, dass künftig keine Tanzveranstaltungen Homosexueller in der städtischen Liegenschaft zur Eintracht mehr stattfinden. Im übrigen bleibt [...] der Zutritt von Homosexuellen weiter gestattet.
2. Mitteilung an die Vorstände des Finanz- und des Polizeiamtes und die Liegenschaftsverwaltung."
Dieser Stadtratsbeschluss betraf nur den KREIS, denn es gab keine anderen Homosexuellen, die in der "Eintracht" tanzten. Das wusste der Stadtrat.
Die für den KREIS bedrohliche neue Lage versuchte Karl Meier / Rolf zu ändern. Er schrieb einen Brief an den Polizeivorstand - Datum 9. August 1960 - , worauf es am 16. August zu einer Aussprache kam. Mit dabei waren auch Pächter Emil Ribi von der "Eintracht" und Dr. Hans Witschi, Kriminalkommissär bei der Sittenpolizei. Fazit: ein Entgegenkommen von städtischer Seite konnte nicht erreicht werden; es gab auch keine Änderung des Stadtratsbeschlusses.
Also stand fest, dass Herr Ribi jede weitere Tanzveranstaltung des KREIS verhindern musste.
Das war ein geschickter Schachzug des Stadtrates. Indem er den Pächter mit der Ausführung beauftragte, entzog er sich möglicher Kritik und der Verantwortung, ein Tanzverbot explizit für eine bestimmte Vereinigung ausgesprochen und auch durchgesetzt zu haben. Nicht de jure, wohl aber de facto erreichte er so das lauthals gewünschte Verbot.
Die Konsequenzen für den KREIS und seine Abonnenten mussten dem Stadtrat ebenfalls bewusst sein. Viele Homosexuelle drängte der Schlag gegen das KREIS-Lokal in den schwer zu kontrollierenden "Untergrund". Auf fatale Weise zeigte das ein paar Jahre später die - im Gegensatz zu Basel - ungebremste Zunahme von Neuansteckungen mit Syphilis in Zürich.
Unmittelbare Folge war zunächst die Sistierung des bereits angekündigten Herbstfestes durch den KREIS. An den Mittwochtreffs gab es nur noch Musik ohne Tanz. Das stand nun in den Kreis-Heften zu lesen.
Ein anderes, in etwa geich grosses Lokal mit Theaterbühne zu finden, war äusserst schwierig. Für den KREIS bei der damals herrschenden extrem homophoben Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung war das ein Ding der Unmöglichkeit, nicht nur innerhalb, sondern auch ausserhalb der Stadt. Das Unterbinden der Tanzveranstaltungen in der "Eintracht" wirkte sich praktisch wie ein Tanzverbot auf dem gesamten Stadtgebiet aus.
Erst zwei Jahre später gelang es dem KREIS, wieder einen grösseren Anlass mit Tanz durchzuführen. Das war in einem neuen Industriegelände in Spreitenbach, Kanton Aargau.
Der folgenreiche Beschluss des Zürcher Stadtrats kam allerdings nur mit relativ kleiner Mehrheit von 5 gegen 4 Stimmen zustande. Offenbar war sich das Gremium der Tragweite und der gesetzlich dünnen Tragfähigkeit seines Vorgehens bewusst, dessen menschliche Fragwürdigkeit überdies leicht zu erkennen war. Einige Jahre später traf ich (Ernst Ostertag) zufälligerweise mit einem gemeinsamen Freund den Sohn des damaligen Stadtpräsidenten, Emil Landolt (FDP). Dabei erfuhr ich, dass dieser zu den Gegnern des "Tanzverbot"-Beschlusses gehört habe. Emil Landolt war von 1949-1966 der wohl populärste "Stapi" des Jahrhunderts.
Die Pächter ziehen aus
Der Pächter, Emil Ribi, beschwerte sich, ohne den KREIS mit seinen internationalen Tanzanlässen reiche das Pächtereinkommen bei gleichbleibendem Zins an die Stadt nicht. Darauf ging man nicht ein. Das Ehepaar Ribi zog die Konsequenzen. Es fand einen Betrieb mit besseren Bedingungen im Kanton Schaffhausen und zog dorthin. So berichtete uns Karl Meier / Rolf an einem der letzten Mittwochtreffs im Dezember.
Finanzielle Konsequenzen für den KREIS
Was für die Pächterfamilie zutraf, galt auch für den KREIS. Mit dem Tanzverbot endeten die Grossveranstaltungen. Damit ging die wichtigste Finanzquelle verloren. Abonnentenbeiträge allein konnten die Zeitschrift nicht auf Dauer am Leben erhalten. Das erklärte mir Eugen Laubacher / Charles Welti bei einem Treffen in seiner Wohnung und fügte hinzu, dass er die finanzielle Lage kenne und die Entwicklung sehr genau beobachte. Weder seine Redaktionskollegen Karl Meier / Rolf noch Rudolf Jung / Rudolf Burkhardt hätten viel Verständnis für solche Dinge. Seine Sorge sei das einigermassen gesicherte Alter der beiden, die ausser der staatlichen Altersversicherung (AHV) keine andere Rente beziehen könnten. Ein Weitermachen bis zum Konkurs werde er mit aller Entschiedenheit verhindern.
Ernst Ostertag, Oktober 2005 und Mai 2013