1969

Coming Out: LdU-Veranstaltung

... Coming Out von Be­trof­fe­nen ändert die Stimmung

Am 29. Oktober 1969 lud der Lan­des­ring der Un­ab­hän­gi­gen LdU zu einer Ver­an­stal­tung mit dem Thema

"Zürich - Welt­zen­trum der Ho­mo­se­xu­el­len! Re­si­gnie­ren? Wir erwarten en­er­gi­sches ge­setz­mäs­si­ges Handeln! Vor­beu­gen und Hilfe!"

Der grosse Saal im Zunft­haus "Zur Waag" war total über­füllt. Wir waren eine kleine Gruppe von Leuten aus dem Conti-Club und aus der Re­dak­ti­on club68 und standen an der Wand, relativ weit vorn. So meine Er­in­ne­rung (Ernst Ostertag, Re­dak­ti­on). Den Vorsitz hatte der LdU-Kan­tons­rat Walter Bräm (geb. 1915, Kan­tons­rat 1943-1959 und 1967-1971).

club68 be­rich­te­te:1  

Gemäss Bräm

"hat sich der Lan­des­ring folgende Grund­sät­ze [...] auf sein Banner ge­schrie­ben:

[...] Nicht die Strich­jun­gen, sondern die Ho­mo­se­xu­el­len sind die Pro­mo­to­ren des Ver­bre­chens. [...] Die Ent­schul­di­gung der 'na­tür­li­chen Ver­an­la­gun­g' gilt nur für den kleins­ten Teil der Ho­mo­se­xu­el­len. Allen übrigen kann zu­ge­mu­tet werden, ihren Trieb zu be­herr­schen. [...]

Die Be­stim­mun­gen des Straf­ge­set­zes müssen ver­schärft werden, da die Ho­mo­se­xu­el­len vor­wie­gend Ju­gend­li­che zwischen 16 und 20 kon­su­mie­ren. Ein­schlä­gi­ge Bars und Treff­punk­te müssen ständig kon­trol­liert werden, nö­ti­gen­falls mit Razzien. [...] Die ein­schlä­gi­gen Lokale sind zu schlies­sen, sofern Ju­gend­li­che dort ver­keh­ren. Die Kirche darf keinen faulen Kom­pro­miss mit den Ho­mo­se­xu­el­len schlies­sen, da dies dem Evan­ge­li­um wi­der­sprä­che.

Der erste Referent, als Ver­tre­ter der El­tern­schaft an­ge­kün­digt, Walter Ba­chof­ner (ein Name, den man sich merken muss) doppelte nach: Die Jugend befindet sich in stetiger Be­dro­hung durch die Ho­mo­se­xu­el­len. Die ein­schlä­gi­gen Gast­stät­ten sind Brut­stät­ten der Ho­mo­se­xua­li­tät. Zürich ist die Welt­ka­pi­ta­le der Ho­mo­se­xua­li­tät. In den HS-Lokalen werden Ver­bre­chen vor­be­rei­tet, weshalb sie po­li­zei­lich ge­schlos­sen werden müssen. [...]

Als dritter Referent gab Herr Stadt­arzt Dr. H. Isen­schmid in leicht ver­ständ­li­cher und ob­jek­ti­ver Form Auskunft über die Ursachen der Ho­mo­phi­lie. [...] Das Ver­dienst dafür, dass die Ver­an­stal­tung nicht in eine all­ge­mei­ne 'Schwu­len-Hatz' aus­ar­te­te, fällt in erster Linie dem nächsten Re­fe­ren­ten zu, Herrn Kri­mi­nal­kom­mis­sär Dr. Hans Witschi von der städ­ti­schen Sit­ten­po­li­zei. [...] Der letzte Referent, Herr Prof. Dr. Kurt Meyer, Se­mi­nar­leh­rer, [...] deckte auf, dass [...] das Kind dazu erzogen werden muss, dass es selbst Gefahren erkennen, Stellung nehmen und einen Ent­scheid treffen kann. [...] Dabei ist die Ho­mo­se­xua­li­tät nur eine unter vielen Gefahren. [...]

Die an­schlies­sen­de Dis­kus­si­on wurde sehr rege benützt und verlief manchmal recht stür­misch. Nebst un­ver­meid­li­chen Dumm­hei­ten wurde sehr viel Ge­schei­tes und Po­si­ti­ves gesagt. [...] Er­freu­lich war die An­we­sen­heit so zahl­rei­cher Ho­mo­phi­ler. Noch er­freu­li­cher ist die Tatsache, dass viele unter ihnen, darunter auch Aktiv-Mit­glie­der von Club 68, das Wort er­grif­fen und mutig und ge­schickt unsere Sache ver­tei­digt haben [...]. Vieles konnte [...] durch ho­mo­phi­le Votanten rich­tig­ge­stellt werden. Es ist sicher richtig, dass sämt­li­che künf­ti­gen, ähn­li­chen Ver­an­stal­tun­gen von einer mög­lichst grossen Zahl Ho­mo­phi­ler besucht werden. [...]

[...] Ins­be­son­de­re wurde den An­we­sen­den klar gemacht, dass die ho­mo­phi­le Min­der­heit nicht Mitleid wünscht, sondern Ge­rech­tig­keit und Ob­jek­ti­vi­tät. Am Schluss der Ver­an­stal­tung machte es fast den Anschein, als ob die he­te­ro­se­xu­el­le Mehrheit im Saale durchaus bereit wäre, diese Ge­rech­tig­keit und Ob­jek­ti­vi­tät zu gewähren. Manch einer hat of­fen­sicht­lich sein Urteil über die Ho­mo­phi­lie re­vi­diert. So schlecht die Ver­an­stal­tung begonnen hatte, so gut ist sie [...] aus­ge­gan­gen [...], dass Club 68 dem LdU [...] dankbar sein darf, auch wenn [...] ur­sprüng­lich etwas anderes geplant war. [...]"

Fast acht Jahre zuvor musste Karl Meier / Rolf ent­täuscht be­rich­ten, wie er und Alfred Brauchli / Fredi die einzigen Ho­mo­phi­len an einer ähn­li­chen Ver­an­stal­tung waren.2

Dieser Abend brachte wiederum viele TAT-Leser dazu, Briefe an die Re­dak­ti­on zu schrei­ben. Eine Auswahl ver­öf­fent­lich­te die Zeitung in ihrer Ausgabe vom 8. November unter dem Titel

"Die Geister, die ich rief… Die Zu­schrif­ten über das Thema Ho­mo­se­xua­li­tät nehmen kein Ende".

Diesmal kamen fast aus­schliess­lich Be­trof­fe­ne zum Zug. Ob die TAT gemerkt hatte, dass der Wind sich zu drehen begann? Sicher fanden zu­neh­mend viele von uns den Mut - mit der ent­spre­chen­den Wut im Bauch - her­aus­zu­tre­ten, die eigene Meinung zu sagen und sich dafür zu ex­po­nie­ren. "Coming Out" wurde viel später zum Begriff, aber hier handelte es sich erstmals in unserem Land um mehrere, die das taten. Und es wirkte an­ste­ckend.

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Ernst Ostertag, November 2005

Quellenverweise
1

club68, Nr. 11/​1969, Seite 4 ff.

2

Der Kreis, Nr. 1/​1962