Aufarbeitung: Kastration

Im Begleitband zur Basler Ausstellung "Männergeschichten" 1988 veröffentlichte Rolf Trechsel einen wohl ersten, aufrüttelnden Beitrag zur Geschichte der Kastration aus homosexueller Sicht: "Die Kastration Schwuler in der Schweiz".1 Er stellt unter anderem fest:

"Die psychiatrischen Nachuntersuchungen dokumentieren aber nicht nur die zynische Haltung der Psychiatrie, sondern liefern auch eindrückliche Biografien von Leuten, die ein Leben lang wegen ihrer Sexualität 'verwaltet' wurden, die sich aber nie ganz unter Kontrolle nehmen liessen und denen oftmals sogar, wie in den Berichten mit Erstaunen bemerkt wird, das nötige Schuldbewusstsein fehlte. Diese Männer, überwiegend aus unteren Schichten, werden in den Nachuntersuchungen als 'debil', 'Psychopathen' oder als 'moralisch minderwertiger Charakter' bezeichnet."

2002 liess das Sozialdepartement der Stadt Zürich einen von Thomas Huonker verfassten Bericht erscheinen. Er trägt den Titel: "Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen - Fürsorge, Zwangsmassnahmen, 'Eugenik' und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970". Einige Sätze daraus:2

"Kastrationen und Sterilisationen sollten der Bekämpfung der Onanie dienen. Masturbation galt vielen Psychologen, Pädagogen und Medizinern des 18., 19. und noch des 20. Jahrhunderts als Ursache von Rückenschäden und Geisteskrankheiten. [...]

Mit Kastrationen von Männern wurde in vielen Ländern und gerade auch in der Schweiz zwecks Heilung von Tobsucht, Epilepsie, Neigung zu körperlicher Gewaltanwendung, Exhibitionismus und Homosexualität therapeutisch experimentiert. Die Schweiz war in Europa, bevor Nazideutschland auch auf diesem Gebiet alles bisherige überbot, das erste und lange führende wissenschaftliche Experimentierfeld für therapeutische Kastrationen. [...]

Homosexualität an sich galt als psychiatrischer Befund. [...] Entsprechende Auffassungen [...] hielten sich auch in der Schweiz lange - teils unter Rückgriff auf Forschungen aus dem Dritten Reich. Solche Einstufungen trugen mit dazu bei, dass sich die Stadtpolizei Zürich noch in den 60er Jahren 'minuziös vorbereitete und schlagartig durchgeführte Grossaktionen gegen das Männermilieu' durchführte, die 'zumindest in Europa ein gewisses Aufsehen' erregten. [...]

Auch Homosexuelle wurden mit der Alternative Dauerinternierung zur Kastration gezwungen. [...] Für die Zürcher Kastrationspraxis bestand ebenfalls nie eine gesetzliche Grundlage."

Bereits 1999 erschien das Buch von Willi Wottreng, "Hirnriss, Zur Geschichte der Zürcher Psychiatrie".3 Dort werden weitere Beispiele von Kastration wegen "Hang zu Buben" und Ähnlichem genannt.

Schon 1937 hatte Karl Meier / Rolf einen längeren Aufsatz zum Thema "Homosexualität und Verbrechen" verfasst.4 Seine Thesen waren dieselben, die er später immer wieder im Kreis publizierte und mit vielen kaum je angenommenen Leserbriefen in die Öffentlichkeit tragen wollte. Ein Abschnitt aus dem Aufsatz von 1937 ist besonders signifikant:

"Sterilisation anzuwenden hätte nur bei einem unausrottbar krankhaften Trieb einen Sinn. Den [...] Homosexuellen zu sterilisieren, der unauffällig unter seinesgleichen lebt, wäre nicht nur grausam, sondern vollkommen sinnlos, weil seit Jahrtausenden unter allen Völkern Gleichgeschlechtliche immer wieder von Mann und Frau gezeugt werden [...]. Es ist ein Spiel der Natur, gegen das Scheiterhaufen, Kerkerhaft und jahrelange Kuren irgendwelcher Art nichts vermögen. [...]

Homosexualität und Verbrechen waren und sind sowenig identisch wie Heterosexualität und Verbrechen."

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Ernst Ostertag, November 2005

Quellenverweise
1

Rolf Trechsel, Männergeschichten, Begleitband zur Ausstellung, Seite 213 ff, "Die Kastration Schwuler in der Schweiz", Basel 1988

2

Thomas Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen - Fürsorge, Zwangsmassnahmen, "Eugenik" und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970, Seiten 153 ff, Sozialdepartement Zürich, 2002

3

Willi Wottreng, Hirnriss, Zur Geschichte der Zürcher Psychiatrie, Weltwoche-ABC-Verlag, Zürich, 1999

4

Karl Meier unter dem Pseudonym Gaston Dubois, Kriminal-Zeitung, Zürich, 4. November 1937, Redaktor Paul Altheer