Freitod: Einziger Ausweg
Das unausweichliche Ende eines Teufelskreises von Verachtetwerden und Ängsten des Ungenügens
Der familiäre, kirchliche, gesellschaftliche Druck, sich "normal" heterosexuell zu verhalten, das Missachten der wahren Situation eines homosexuellen Familienangehörigen oder ganz allgemein: ein subtil praktiziertes Zurückweisen und Verachten des anders Gearteten, gar seine offene Diffamierung und Ausgrenzung, all das kann die davon Betroffenen auf einsame Leidenswege drängen. Oft handelt es sich bei solchen Leuten um sensible, künstlerisch begabte oder für karitative Tätigkeiten besonders geeignete Menschen. Sie sind auf Dauer dem zermürbenden und entwürdigenden Nichtakzeptieren nicht gewachsen und stehen hilflos vor den Ansprüchen ihrer Umgebung.
Folge davon kann ein fortschreitendes Erlöschen des Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls sein, ein Teufelskreis von Ängsten des Ungenügens, von seelischem wie körperlichem Sich-Krank-Fühlen und Krankseins. Das sind Belastungen, die - wie wir (Röbi Rapp und Ernst Ostertag) es oft beobachten mussten - zum Gebrauch chemischer oder anderer Drogen wie Alkohol oder Schmerztabletten führten. Irgendwann entstand schliesslich die Idee der Erlösung durch Freitod.
Im KREIS gab es Leute mit beruflicher Erfahrung, die von Karl Meier / Rolf angefragt werden konnten, wenn sich Menschen in Not - nicht nur Abonnenten - an ihn wandten und das Gespräch mit einem verständnisvollen Kameraden suchten. Ich (Ernst Ostertag) war einer von ihnen, damals der Jüngste. Natürlich galt absolute Schweigepflicht. Doch gelegentlich hatten wir Kontakt unter uns, wenn ein "Fall" schwierig wurde. Ein "Fall" wurde dann schwierig, wenn Hilfe in "normalem" Rahmen nicht mehr ausreichte. An einige "Fälle" erinnere ich mich deutlich - an "Schwierige".
Am Ende ging es um möglichst nahe an den Freitod reichende Begleitung, wenn der Betreffende keinen anderen Weg mehr sah, wenn das seine Form der "Lösung" war, die man respektieren musste.
Mühsam konnte es danach bei der Abdankung werden, wenn Angehörige oder der Geistliche Worte sagten, welche diesem Menschen in keiner Weise gerecht wurden - oder die sein Sterben gar als "göttliche Strafe für ein missratenes Leben" deuteten. Man sass im Abdankungsraum oder stand am Grab, um dem Kameraden nahe zu sein, um ihn im Abschied still zu ehren. Man hörte nicht hin, man war ohnehin ein Fremder.
Ernst Ostertag, November 2005