Tagebuch: Abschied

... eines Frühvollendeten

Die Nekrologe oder kurz gehaltenen Todesnachrichten im Kleinen Blatt berichteten auch gelegentlich vom Suizid eines Abonnenten. So beispielsweise in 9/1955 und 12/1964.

Bereits 1948 liess Karl Meier / Rolf einen, der den Tod suchte, sprechen:1

"[...] Ich liege schlaflos in meinem Bett. Mein Körper sehnt sich nach dem Geliebten. O, lass ihn über mich kommen wie eine segnende Hand, wie Öl über einen brennenden Brand, und ich werde gesunden!

Was hilft es mir, dass ich Freunde habe. Wenn ich keinen lieben, keinen umarmen darf? Was hilft diese rein geistige Liebe meinem Körper? Er verschnappt wie ein Fisch auf dem Trockenen. Wohl ist die Luft da, aber nicht in der ihm gemässen Form.

Alles, was ich mir vornehme, zerbricht letztlich an meiner Veranlagung. Was immer ich irgendwie zu Ende bringe, ist ein Torso, muss einer bleiben, denn der Glanz der Liebe ist nicht darüber ausgegossen. Alles muss tot bleiben, was nicht vom letzten und tiefsten Sinn dieses Lebens - von der Liebe - lebt.

Es bleibt mir nur die Wahl zwischen Tod oder lebenslänglichem Theater. Da ich kein guter Schauspieler bin und immer wieder aus der Rolle zu fallen drohe, habe ich mich für den ersteren entschieden. [...]

Bevor ich mich aber auf den einsamen Weg mache, möchte ich einmal nur bei dir ausruhen, Geliebter. Deinen Segen mit mir nehmen für die grosse Reise. Wohin wird sie mich führen? Aus Schmerzen in noch grössere Leiden? Kaum, denn sie sagen ja: Gott ist die Liebe. Wenn er aber die Liebe ist, wird er meiner Unruhe, meinem Sehnen die Ruhe und die Erfüllung schenken.

Nun ist es so weit. Die erste Rose mahnt mich aufzubrechen. Ich nehme Abschied von allem, was mir lieb ist, nicht mit Worten, nur mit den Augen und mit dem Herzen. Es ist kein Sich-lösen mehr. Ich habe mich ja schon täglich gelöst. Bin schon längst stündlich gestorben. Es ist [...] wie ein fallendes Blatt ein letztes Mal zum Baume aufblickt, von dem es sich eben gelöst hat und ohne Trauer hinabsinkt. [...]"

Über das Ganze, es umfasste acht Seiten, setzte Karl Meier den Titel "Fragmente der Sehnsucht, Aus den Tagebuchblättern eines Frühvollendeten" und offenbar kannte er auch den Namen dieses Kameraden: Ric Junkherz. In einer Erklärung fügte er bei:2

"Ein tragischer Fall wie tausend andere, gewiss; ein Mensch, der sich [...] nicht zur Bejahung seiner Art durchzuringen vermochte und der verständnislosen Umwelt nicht länger die Stirne bieten wollte."

Er liess diese Abschiedsworte vollumfänglich 1957 noch ein zweites Mal erscheinen und setzte am Schluss hinzu:3

"Diese Tagebuchnotizen wurden dem Kreis von einem katholischen Priester der Innerschweiz, der den Nachlass des Unglücklichen ordnete, bereits 1948 zur alleinigen Veröffentlichung überlassen. Wir wiederholen den Druck nochmals, weil diese Blätter eine erschütternde Lebensbeichte festhalten. [...] Die Kugel vernichtete damals nicht nur ein junges, hoffnungsvolles Leben, sondern auch eine ungewöhnliche Kraft der wesentlichen Aussage über unsere Art, die vor allem in unserem Land ihresgleichen sucht."

Auch solche verstehende Geistliche, wie dieser Priester einer war, gab es und gibt es immer wieder. Anna Vock, unsere Mammina, blieb ihr ganzes Leben lang praktizierende Katholikin und fuhr regelmässig mit Bahn und Bus in ein Dorf im Thurgau zur Beichte, weil der Priester dort in ihr den Menschen sah und nichts anderes. Und sie hat das gerne weitergesagt.

Die eigentliche "Sünde der gleichgeschlechtlichen Liebe" entsteht ja eben nicht durch die, die sie leben, sondern durch jene, die sie in ihren Bannfluch stellen, den sie getreulich übernommen haben von Vorgängern, die ihn erst einmal erfinden mussten.

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Ernst Ostertag, November 2005

Quellenverweise
1

Der Kreis, Nr. 9 und 11/1948

2

Der Kreis, Nr. 9/1948, Seite 27

3

Der Kreis, Nr. 4/1957, Seite 16 ff.