E. Ostertag, R. Rapp: Zeitzeugen
... Foltermethoden und Erpressung
Im folgenden Bericht werden Ereignisse geschildert, die sich einige Jahre vor der Einvernahme von Hans H. zugetragen haben. Die Parallelität des polizeilichen Vorgehens in beiden Berichten, dem von Hans H. und im folgenden, beweist die Wahrheit beider Schilderungen einerseits und illustriert andererseits das Abgleiten einer Behörde in Handlungsmechanismen, die zur Vernachlässigung ihrer eigentlichen Aufgabe führen: Schutz der unbescholtenen Bevölkerung vor Verbrechen.
Die Schwulengeschichte der Repressionszeit ist ein Schulbeispiel für solches Abgleiten in gesetzliche Grauzonen und Willkür.
Der ungelöste Mordfall Gähler wurde dazu benützt, die HS-Register der Sittenpolizei für die Kriminalpolizei zu öffnen und gezielt und möglichst umfassend auszubauen. Nur so können wir beide die Vorladung verstehen, die uns Ende April 1962 seitens der Kriminalpolizei Zürich zugeschickt wurde. Sie war auf einer offenen Karte gedruckt und erreichte uns mit der regulären Post. Jeder Unbefugte konnte sie einsehen. Darauf stand, wir hätten uns "Zwecks Auskunftgabe" zu melden, Datum und Zeit des Erscheinens waren ebenfalls vermerkt.
Wir standen im sechsten Jahr unserer Partnerschaft, aber wir wohnten nicht zusammen. Das war in jener Zeit nicht denkbar. Wir waren so schon exponiert genug. Zum Glück folgt Rapp alphabetisch nach Ostertag. Röbi war eine Stunde nach mir aufgeboten.
Natürlich machten wir uns Gedanken und folgerten schliesslich, dass die Kripo nur durch Wortbruch der Sittenpolizei zu unseren Adressen gekommen sei, was uns allerdings nicht sonderlich erstaunte, denn wir hatten inzwischen gelernt, dass es keinerlei Vertrauen in Polizeiorgane geben konnte. Nachdem uns Freunde darauf hingewiesen hatten, war auch uns klar, dass das Ganze mit dem Mord an Heinrich Gähler zu tun hatte. Nur: galten so viele Leute als Zeugen oder gar Mordverdächtige?
Aufgeboten waren wir auf den 7. Mai. Wir gingen gemeinsam in ein Café nahe der Hauptwache. Dort sollte Röbi auf mich warten. Schon im Eingangsbereich standen Uniformpolizisten und empfingen mich mit spöttischem Lachen und homophoben Bemerkungen, die sie offenbar für witzig hielten. Einer öffnete die Tür zum nächsten Verhörzimmer. Dort sass ein Beamter am Pult, während ich an der Wand zu stehen hatte, links und rechts flankiert von je einem Uniformierten.
Sofort ging es los:
"Wir wissen, dass Sie homosexuell sind, leugnen ist zwecklos! Wir haben Unterlagen."
Es folgten weitere Behauptungen und dazwischen gezielte Fragen. Vieles schien bereits protokolliert zu sein. Ich versuchte krampfhaft, ruhig zu bleiben und alles einigermassen zu ignorieren. Dann sagte ich:
"Die Vorladung auf dieser Karte hat den Zweck der Auskunftgabe. Was wollen Sie, worum geht es?"
Antwort:
"Sie wissen doch, dass ein Mord im Homosexuellenmilieu passiert ist. Wir brauchen hier Ihre Unterschrift."
Nun war ich wütend:
"Geben Sie mir schriftlich, dass ich mordverdächtig bin! Und lassen Sie mich zuvor mit einem Anwalt sprechen."
Das hätte ich nicht sagen sollen. Die beiden Uniformierten nahmen mich blitzartig in die Zange, indem sie meine Arme hart nach hinten bogen und auf den Rücken pressten. Ich schrie, denn es tat weh. Zudem war ich total erschrocken. Vom Pult her tönte es: "Unterschreiben Sie jetzt?". Ich: "Nein!" Nun schlug mir einer die Faust unters Kinn, sodass der Kopf an die Wand prallte. Zugleich wurden die Arme noch höher in den Rücken gedrückt. Ich war fixiert wie in einem Schraubstock; ich konnte keinen Laut mehr von mir geben. (Das war gut, dachte ich, denn ich wollte keinesfalls ein winselndes Opfer sein, nicht an diesem Ort.) Wieder hörte ich den Mann am Pult:
"Wir können Sie hier behalten bis morgen. Wir werden in Ihre Schule anrufen und erklären, wo Sie sind und warum."
Ich überlegte: Wenn ich unterschreibe, bin ich frei. Registriert bin ich ohnehin seit vier Jahren. Die Konsequenzen davon kenne ich. Jetzt Skandal machen lohnt sich nicht. Ich versuchte zu nicken. Sofort ging die Faust weg. Ich sagte: "Ja."
Kaum hatte ich, nun am Pult sitzend, unterschrieben - ich war so wirr, gedemütigt, unsicher und wütend, dass ich die vorgelegten Papiere (oder war es nur eines?) nicht einmal richtig durchlas -, da tönte es: "Nun noch die Fingerabdrücke." "Nein!", schrie ich auf. Und schon wurde ich hochgerissen und war wieder im Schraubstock zwischen den beiden Uniformierten, hilflos, mit nach hinten gepressten Armen. Wieder überlegte ich: Fingerabdrücke bei der Kripo sind auch Sicherheit für den Fall weiterer Milieumorde. Da bist du rasch und schmerzlos ausgesiebt. Zugleich stieg grenzenlose Verachtung auf.
Als Homosexueller bist du schutzlos erpressbar und ein Staat mit dieser Polizei wendet das schamlos an: Erpresserstaat - solange das hier nicht gestoppt wird und alles ausgemerzt ist. Genau das aber muss geschehen! Ich nickte ein "Ja."
Ich wurde in den Korridor geführt. Da standen schon erstaunlich viele, und auf der Treppe nach oben auch. Eine Warteschlange zur Registrierung der Fingerabdrücke. Etliche darunter kannte ich aus dem KREIS. Ein kaum merkbares Nicken: Aha, du auch! Wir standen schweigend, die meisten mit gesenktem Kopf. Ich musste an die Lager der Nazis denken. Opfer werden zu nichts, jeder eine Unperson. Schliesslich war ich dran. Ein kleines Zimmer am Ende der Treppe. Das Papier mit meiner Unterschrift wurde vorgelegt. Ja, es ist meines. Ein schwarzes Stempelkissen. Die Person dort nahm meine Finger, einen oder zwei, ich weiss es nicht mehr, presste sie auf das Kissen, dann auf das Papier. War das ein böser Film?
Ich rieb und rieb die Finger am Tuch, sie wurden nicht sauber. "Nun aber Schluss, es warten noch viele!" Ich ging raus, an den Wartenden vorbei die Treppe runter. Ich sah keinen an. Schliesslich war ich draussen, fand einen Brunnen und wusch lange. Das Schwarz war hartnäckig. Plötzlich lachte ich. Lady Macbeth hat ihre Hände auch waschen wollen, verzweifelt; ich sah sie vor mir, im Theater. Aber die hatte wirklich einen Mord auf dem Gewissen.
Ich traf Röbi im Café. Er war ungeduldig. Und froh, dass ich da war. Rasch erzählte ich ihm wie es war und mahnte: "Lass alles mit dir geschehen, keinen Widerstand." Als er zurückkam, ging er sofort zur Toilette, um sich richtig mit Seife zu waschen.
Inzwischen hatte ich Karl Meier / Rolf ins KREIS-Büro angerufen. Er erwartete uns. Wir erzählten haargenau, wie alles ablief und erwähnten auch einige der Namen jener Kameraden, die wir erkannt hatten. Darauf setzte er sich mit dem Rechtsanwalt Dr. Krafft in Verbindung. Dieser intervenierte, wie Karl Meier uns später mitteilte, an den "richtigen Stellen". Die illegale Operation sei darauf abgebrochen worden. Das Register blieb.
Nach Auskunft des Stadtarchivs Zürich vom 11. November 2005 gibt es dort, angeliefert von der Sittenpolizei, nur
"ein ganz schmales Dossier, in welchem sich einige Registerkarten aus dem Homosexuellenregister befinden."
Dazu wurde freundlicherweise von Dr. Nicola Behrens mitgeteilt:
"Wir sind also weit davon entfernt, über irgendwelche Protokolle zu verfügen. Dasselbe gilt auch für die Kriminalpolizei. Die Polizeiakten wurden in der Vergangenheit nur sehr spärlich und zögerlich ins Archiv abgeliefert. Die Polizei hat es damals für sicherer gehalten, ihre Akten zu vernichten."
Ernst Ostertag, November 2005