1978

Aufklären - Aufrütteln!

Ein Presse-Artikel

Die Schweizer Illustrierte, sie+er vom 2. Oktober 1978 brachte eine längere Reportage mit dem Titel

"Was hat die Telearena den Homosexuellen gebracht?".

Der Untertitel hiess

"Manchmal vergeht ihnen das Lachen"

und einleitend hatte Edith Lier dazu einen Kurzbericht verfasst, dem sie die Frage voranstellte

"Toleranz - im sexuellen Bereich ein Fremdwort?":

"Die Telearena vom 12. April hat ein Tabu gebrochen: Zum ersten Mal äusserten sich direkt und indirekt Betroffene öffentlich [...]. An der Telearena [...] sind aber auch Menschen zerbrochen - durch Menschen.

Ein junger homosexueller Zuschauer hat sich nach der Sendung erhängt. In seinem Abschiedsbrief schrieb er, die Telearena habe ihm vor Augen geführt, in welch aussichtsloser Lage er sei. Ein anderer Zuschauer hat einen Selbstmordversuch begangen. Nach der Ausstrahlung wurde dem jungen kaufmännischen Angestellten zum ersten Mal bewusst: Ich bin auch so. Ich bin homosexuell.

Ein Teilnehmer an der Telearena hat am Tag nach der Sendung die Kündigung bekommen. Er sei, so die Firma, als Vertreter für die Kundschaft nicht mehr zumutbar. Ein anderer [...] hat seine Stelle mit dem infamen Hinweis verloren, er könne gegen die Kündigung nichts unternehmen, man habe sich juristisch abgesichert. Mehr noch: seine neue Stelle konnte er nur unter der schriftlich formulierten, ebenso infamen Bedingung antreten, nicht gegen den vorherigen Arbeitgeber vorzugehen. Ein 55-jähriger Lehrer hat es nicht verkraften können, dass er nach seinem [...] Auftritt in der Telearena in der Schule und auf der Strasse geächtet ist. Er wurde für mehrere Monate in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

Sie alle wollen ihren Namen, ihre Identität nicht preisgeben. Können nicht. Weil sie erneut mit Repressalien rechnen müssen. Sie alle müssen sich weiterhin verstecken, am Arbeitsplatz wie im Privatleben. Weil sie anders, nicht der Norm unserer Gesellschaft entsprechend, empfinden, sind sie anders. Abnormal, sagt unsere Gesellschaft, intolerabel.

Aber was ist denn die Norm unserer Gesellschaft? Ein 'normaler' Lehrer greift den Schulmädchen ab und zu nach Po und Busen. Die 'Opfer' kichern und fühlen sich geschmeichelt. Die Gesellschaft drückt ein Auge zu, die Sache wird jedenfalls geduldet. Ein reicher Filius schwängert das Dienstmädchen seiner Eltern. Das Kind wird abgetrieben. Der 'Ausrutscher' des 'normalen' Sohnes wird tolerant übergangen. Ein Prokurist und Familienvater vernascht mit sanftem Vorgesetztendruck seine Sekretärin. Ein 'Kavaliersdelikt' - Hauptsache, der Mann ist 'normal'. Wahrlich eine schöne Gesellschaft, unsere normale, intolerante Gesellschaft…"

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Ernst Ostertag, Mai 2007