1978

Eindrücke zur Sendung

Ein Kom­men­tar, ein Zeuge

Es gab nur wenige Be­schrei­bun­gen darüber, wie sich die Sendung in Details ab­ge­spielt hatte. Man muss sich aus zahl­lo­sen Äus­se­run­gen ein Bild zu machen ver­su­chen, wohl wissend, dass nur eine der immerhin vor­han­de­nen Kopien den vollen Einblick ver­mit­teln kann. Al­ler­dings, den Druck der da­ma­li­gen Zeit auf Macher und Teil­neh­mer vermag auch sie nicht wie­der­zu­ge­ben. Stephan Miescher hat diese Stimmung nach­ge­zeich­net:1

"Ein aus­ge­wähl­tes Publikum äusserte sich in seinen Voten weniger zu den im Stück auf­ge­grif­fe­nen Aspekten [...], sondern er­ei­fer­te sich über die Stellung von Ho­mo­se­xu­el­len in unserer Ge­sell­schaft. Für einmal do­mi­nier­ten die schwulen Stimmen und brachten un­ge­wohnt ag­gres­siv ihre Anliegen vor. [...] Beiden Lagern, Schwulen und He­te­ro­se­xu­el­len, wurde In­to­le­ranz vor­ge­wor­fen. Einige He­te­ro­se­xu­el­le ar­gu­men­tier­ten mit solch einem engen, fun­da­men­ta­lis­ti­schen Bi­bel­ver­ständ­nis, dass sogar von ka­tho­li­scher Seite fest­ge­stellt wurde, die Kirche sei in 'Miss­kre­dit' geraten."

Joe Sta­del­mann setzte den Titel

"Te­lea­re­na - wofür, weshalb, wieso?"

über sein Nach­den­ken zu dem, was in der Sendung geschah. Pu­bli­ziert im hey:2

"Mein Gott, drei Jahre habe ich darum gekämpft, dass das Thema Ho­mo­se­xua­li­tät in die Te­lea­re­na auf­ge­nom­men wird. Hat sich das gelohnt oder stehen wir vor einem Scher­ben­hau­fen, wie einige vor­ei­li­ge Blätter be­haup­ten? Bitte ver­ste­hen Sie mich richtig, lieber Leser. Ich will hier keine Recht­fer­ti­gung meiner Arbeit leisten [...] Es scheint mir nur wichtig, jetzt von der Hysterie (in den eigenen Reihen und in den anderen) weg­zu­kom­men, zum Gespräch. [...]

Das Stroh­feu­er der letzten Te­lea­re­na war während Tagen das Ge­sprächs­the­ma in der ganzen deut­schen Schweiz. Auch in jenen Kreisen, in denen man diesem Tabu bis anhin stur aus­ge­wi­chen war [...].

Das Stroh­feu­er ist vorbei, aber eine noch immer heisse Glut ist ge­blie­ben. Nützen wir sie. Für uns selber, indem wir über das Wort Toleranz weniger sprechen, aber umso mehr nach­den­ken. [...] Welcher Me­cha­nis­mus wird da in Gang gesetzt, dass wir alle so Angst vor dem 'an­de­ren' haben, dass wir es ver­spot­ten, ver­la­chen und ver­ach­ten müssen? (z.B. 'Lueg emal die säb Zwätsch­ge det'.) Ich halte die In­to­le­ranz für eine see­li­sche Krank­heit. [...]

Die Glut könnte aber auch für die Heteros genützt werden. 700 Briefe habe ich nach der Sendung gelesen. In den meisten spürt man eine Lust nach mehr In­for­ma­ti­on. Nun glaube ich aber, dass dieses Wissen [...] im per­sön­li­chen Gespräch ef­fi­zi­en­ter wirkt als jede Auf­klä­rungs­ar­beit durch die Medien. [...]

Wer lacht und schimpft über das Ver­hal­ten der Lesben in der Sendung? Ich nicht. Mir schien, dass hier eine Wunde auf­ge­ris­sen wurde, und der Ver­band­stoff fehlt. Es ist wahr, die Frauen stehen nicht nur in der Ge­sell­schaft, sondern auch in unseren Kreisen im Abseits. [...]

Fangen wir doch [...] an, unsere eigene Toleranz zu erproben, oder sollte wahr sein, dass man am anderen das am meisten fürchtet und ver­drängt, was man selbst noch nicht be­wäl­tigt hat? Wärmen wir uns an der Glut eines Stroh­feu­ers, das dann nicht ganz ver­ge­bens gebrannt hat. 'Warm sein' muss ja nicht un­be­dingt ein Schimpf­wort sein. Es könnte auch für 'Mensch sein, Partner sein' stehen."

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Ernst Ostertag, Mai 2007

Quellenverweise
1

Stephan Miescher, Männergeschichten, Seite 130, Basel 1988

2

hey, Nr. 6/​1978, Seite 4