1980

Augenzeugin

Im Osservatore Homano

Eine Augenzeugin, "Irene" von der ARCADE (BL), beschrieb ihre Eindrücke im Heft der ARCADE, dem Osservatore Homano:1

"[...] Dass ich an die Demo gehen würde, stand für mich längst fest. [...] Ich nähere mich also dem Besammlungsort. Schon von weitem sehe ich die rosa Ballons. [...] Doch plötzlich stocke ich. Vom Park her kommen sieben oder acht Ledertypen: Stiefel, Ketten, kurzgeschorene Haare. Ich bekomme Herzklopfen, [...]. Doch dann rufe ich mir in Erinnerung, was an der Vorbereitung gesagt wurde: '[...] Wir müssen auch extreme Schwule akzeptieren. Auch Ledergays und Tunten gehören zur Familie.'

[...] Ehe ich's richtig begreife, bin ich mittendrin in einer grossen Menge [...]. Einer drückt mir eine rosa Nelke in die Hand - es ist einer der Ledertypen. Meine Angst ist weggeblasen, ich habe ein gutes Gefühl.

Dann: Einstehen, Flugblätter fassen, auf geht's [...]. Am Strassenrand strecken Zuschauer die Hand aus 'kumm gimmer au e Zeedel', ich komme mir schon fast wie ein Vorträbler vor. Auf der Mittleren Rheinbrücke wird die Zuschauermenge dichter. Leise beschleicht mich wieder ein Gefühl der Angst, [...]. Ein aufmunterndes Kopfnicken von einem ARCADE Mitglied hilft. Trotzdem bin ich froh, dass ich mich am Transparent festhalten kann. Wortfetzen dringen an mein Ohr 'Bravo, endlich wehrt Ihr Euch' - 'Das hett jetzt grad no gfählt, dass Schwuli uff d'Schtross göhn!' - 'Homosexuelle Arbeitsgruppe - he do hetts jo e Frau derbii' - 'Was machen die eigentlich, wofür demonstrieren die?' - 'Ich wusste gar nicht, dass das mit der Diskriminierung so schlimm ist' - 'Die hän Rächt'.

Ein alter Mann schaut verbissen auf den Umzug, ein Schwuler steckt ihm eine Nelke zu, Verlegenheit, ein kleines Lächeln, das Eis ist gebrochen. Ich werfe einen Blick zurück. Die ganze Brücke ist rosarot, ein gewaltiges Bild, alles friedlich, lieb, nett, die ganze Schwulenbewegung mit Zuckerguss.

Auf dem Marktplatz entsteht eine Druggete. Hunderte von Neugierigen und Sympathisanten erwarten uns. Vom Podium heisst der HABS-Vertreter alle 'zärtlich willkommen'. [...] Der Sprecher der Symétrie und die LIB-Sprecherin [Lesbeninitiative Bern] weisen auf die einseitige Aufklärung in Schule und Familie hin. Sehr emotional plädiert der GHOG-Vertreter [Groupe Homosexuel de Genève] für die Herabsetzung des Schutzalters. Die ELTERNKONTAKTSTELLE wird vorgestellt und ein Sprecher der LIGA FÜR MENSCHENRECHTE sichert uns Hilfe zu im Kampf gegen Unterdrückung. Die Votanten werden immer wieder durch die applaudierende Menge unterbrochen. [...]

Dann fliegen die rosa Ballons in den Himmel, die Transparente werden eingerollt, die Nelke an der Brust lässt den Kopf hängen. Die Menge löst sich auf. Tschüs, bis heute Abend am Fest. [...]"

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Ernst Ostertag, Juni 2006

Quellenverweise
1

Zitat aus dem Nachdruck im Kontiki, Nr. 27 vom August 1980