1971-1975
Radikale Genfer Gruppe
Die Bewegung aus Paris
Ab 1975 kam es in der Romandie zu neuen Zusammenschlüssen Schwuler, die sich zumeist den progressiven CHOSE, Coordination Homosexuelle Suisse (HACH, Homosexuelle Arbeitsgruppen Schweiz) näher fühlten als der SOH/OHS.
Die meisten Angaben und Materialien zu den nun folgenden Ausführungen erhielten wir von den Genfern Pierre Biner, Michael Häusermann und Jean-Pierre Sigrist.
Natürlich waren die gesellschaftsrevolutionären Aktionen und Gruppierungen in Frankreich, vor allem in Paris, Vorbild und Anstoss zu ähnlichem Denken und Tun in der Romandie, vorab in Genf. Eine Skizze:
Um 1971 war an der Pariser Ecole des Beaux-Arts eine feministische Gruppierung FHAR entstanden, welche die Vorherrschaft des Patriarchats in der Gesellschaft brechen wollte. FHAR sollte auch an phare = Leuchtturm erinnern. Zu den Gründerinnen gehörten Anne-Marie Grélois und Françoise d’Eaubonne (Autorin, unter anderem über sexuelle Minderheiten). Ebenfalls dazu gehörten der Schriftsteller Guy Hocquenghem (an Aids gestorben, 1946-1988) und Daniel Guérin (Schriftsteller, Kommunist, 1904-1988).
Die Schwulen an der Ecole des Beaux-Arts liessen sich davon inspirieren und verbanden den Kampf gegen patriarchales Denken mit dem Kampf um (homo-) sexuelle Befreiung. Aus FHAR wurde Front Homosexuel d'Action Révolutionnaire (F.H.A.R.). Im April 1971 erschien Tout!, eine revolutionäre Zeitschrift, die das Recht auf Homosexualität und jede andere Form von Sexualität forderte: "Nous voulons tout!" Wir wollen alles! Das Patronat hatte Jean-Paul Sartre übernommen, um das Blatt vor der Zensur zu schützen.
Wiederum ein Jahr später (1973) outete sich auch der damals 26-jährige Guy Hocquenghem als erster Mann in Frankreich, was grösstes Aufsehen erregte.1 Im selben Jahr erschien sein Buch "Le désir homosexuel", das durch Radikalismus und psychoanalytisches Hinterfragen von Tatsachen und Zusammenhängen aufhorchen liess, weil keiner zuvor so gefragt und solche Schlüsse gezogen hatte:
"Nous sommes tous mutilés dans un domaine que nous savons essentiel à nos vies, celui qu'on appelle le désir sexuel ou l'amour."2
Ein Jahr später outete sich auch der bekannte Schriftsteller Jean-Louis Bory (1919-1969). Er verfasste 1977 zusammen mit Guy Hocquenghem den kämpferischen Aufsatz "Comment nous appelez-vous déjà?" Wie nennt ihr uns schon wieder?
Ebenfalls mit der F.H.A.R. verbunden waren nebst Jean-Paul Sartre (1905-1980) auch Michel Foucault (1926-1984) und der Schriftsteller Hervé Guibert (1955-1991), die beide an Aids verstarben.
Die französische Avantgarde der militanten Gesellschaftsveränderung und Schwulenemanzipation fand rasch Anhänger, die sich in der Romandie für dieselben Ziele einsetzen wollten. Sie gründeten eine kleine F.H.A.R. Genève, die im Februar 1975 ihren Namen änderte: GLHOG, Groupe libertaire d'homosexuels genevois3. Das bewusst provozierende Agieren der Genfer F.H.A.R. mit Traktaten und "offenen Briefen" setzten die Leute der GLHOG fort, angeführt von ihrem Mitglied Pierre Biner (geb. 1939), damals Schauspieler am Living Theatre (1968-1974 und 1975/76) - und daher oft von Genf abwesend. Später wurde Biner Journalist bei der TSR (Télévision Suisse Romande) und blieb weiterhin - nun regelmässig - schwulenemanzipatorisch aktiv; ab 1978 in der GHOG.
Ernst Ostertag und Jean-Pierre Sigrist Mai 2008
Quellenverweise
- 1
Nouvel Observateur, 10. Januar 1972
Anmerkungen
- 2
Übersetzung: "Wir sind alle Verstümmelte in jenem zentralen Bereich des Lebens, den man sexuelles Verlangen oder die Liebe nennt."
- 3
Übersetzung: Gruppe von anarchistisch-libertären Genfer Schwulen