1985

Bericht aus den USA

Vernunft und Unvernunft

In der Basler Zeitung vom 5. Oktober 19851 erschien ein Bericht über die USA, verfasst von Johann Aeschlimann, Washington: "Aids ist bereits zu einem Politikum geworden". Daraus einige Sätze:

"Seit dem ersten Auftreten dieser jüngsten Seuche vor gut vier Jahren wurden insgesamt 12'256 Aids-Fälle registriert. Rund die Hälfte der Opfer sind inzwischen tot. Alle acht Monate verdoppelt sich die Zahl der Kranken. [...] Gegen Aids ist die Medizin heute noch weitgehend hilflos, Aids führt in den meisten Fällen zum Tode. Das ist das Unheimliche, Unvergleichbare an der neuen Krankheit und der Grund für einen Angst-Reflex, der weit über das medizinisch Gerechtfertigte hinausgeht. Unter der Oberfläche von Verständnis und ärztlicher Sorge wächst in den USA denn auch eine Bewegung der Ausstossung gegenüber Aids-Trägern, wie sie zuletzt die Aussätzigen im Mittelalter erfuhren.

'Gay'-Aktivisten befürchten, dass die Sammlung der Resultate von Aids-Antikörpertests als eine Wiedergeburt der unrühmlichen 'Homo-Listen' missbraucht werden könnte. Und in Houston, der US-Stadt mit der drittgrössten Homosexuellen-Gemeinde, wird die Aids-Angst im derzeitigen Bürgermeister-Wahlkampf missbraucht, um die Amtsinhaberin Kathryn Whitmire wegen ihres Eintretens für die 'Gay Rights' (Homosexuellen-Rechte) anzugreifen. Allgemein scheuen Politiker die Unterstützung durch offen auftretende Homosexuellen-Gruppen als 'Todeskuss'.

Bereits sind politische Versuche zu beobachten, Angst und Unsicherheit auszuschlachten. William Dannemeyer, republikanischer Abgeordneter aus Kalifornien, kündigte in dieser Woche gleich fünf neue Aids-Gesetzesvorschläge an, darunter ein bundesweites Schulverbot für aids-kranke Kinder und die Schliessung der 'Badehäuser', die in der homosexuellen Subkultur oft wichtige Kontaktstellen waren und zunehmend als Seuchenherde in Verruf gekommen sind. Für solches, so Dannemeyer in einem Brief an seine Kollegen, sei im Ratschluss des Schöpfers kein Platz: 'Gottes Plan für die Menschen hiess Adam and Eve, nicht Adam and Steve'.

Zurzeit herrscht unter den Politikern indessen die Meinung vor, die Aids-Forschung nach Kräften auszubauen, um den Ärzten möglichst rasch ein Mittel zur Bekämpfung der Krankheit in die Hand zu geben. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird der Kongress trotz Sparzwang bedeutend mehr Finanzen dafür abzweigen, als Präsident Reagan es vorsieht."

Nach oben

Ernst Ostertag, August 2007

Quellenverweise
1

Basler Zeitung, 5. Oktober 1985