1983

Realität in der Szene

"Ein ganz heisser Ort"

Sensationslust und Hysterie schürende Berichterstattungen führten Beat Wüthrich im Zürcher Tages-Anzeiger vom 4. Juli 1983 zu einem Blick in die "Zürcher Homoszene" unter dem Titel: "Ein ganz heisser Ort":1

 "Die Unsicherheit wandelt sich zur Hysterie: 'Das sind Altersflecken', beteuert ein 41jähriger Buchhalter und zeigt seinen linken Handrücken, der mit dunklen Punkten übersät ist; 'keine Angst', beschwichtigt er seinen jungen Nachbarn an der Bar, 'AIDS ist es nicht.' [...]

Zusammen mit Berlin, Amsterdam und vielleicht noch München gilt Zürich als europäisches Homo-Dorado. [...] Nach zuverlässigen Schätzungen leben in der Zwingli-Stadt rund 15'000 Schwule, was der Bevölkerungszahl von Baar, Burgdorf oder Pratteln entspricht.

Das Homoleben in Zürich hat sich seit den ersten AIDS-Berichten verändert. Zwar sind die Speziallokale wie früher bumsvoll, Gesprächsthema Nummer eins ist jedoch nicht mehr die körperliche Liebe, sondern die Angst davor. Anstelle von 'Ciao' oder 'Tschüss' ist bei manchen 'Gut AIDS' als makabrer Abschiedsgruss ebenso gang und gäbe wie 'Sali, AIDSgenosse'. 'Hände weg von Amerikanern', mahnt ein Barmann.

[...] Auch in der Schweiz sind bereits Fälle von Repressionen bekannt: 'Mein Chef, der meine Veranlagung kennt, fragte mich letzte Woche, als ich mich hundsgewöhnlich krank meldete, ob ich AIDS hätte. Wenn ja, sollte ich doch, bitteschön, nicht die ganze Belegschaft anstecken', erzählt ein 30jähriger Prokurist. 'Sie haben nicht etwa diese neue Krankheit?', lächelte milde ein Gast und meinte einen Kellner mit einem verbundenen Finger. Ein Wirt zu seinem Angestellten, der einen Gast mit Gesichtsekzem bediente: 'Wir kochen das Glas nachher aus.'

'Wir können nur etwas unternehmen, wenn ganz konkrete Fälle von Unterdrückung bekannt werden, wenn etwa ein Grossunternehmen alle seine homosexuellen Angestellten entlässt.', berichtet Jürg Wehrli (28), Präsident der Schweizerischen Organisation Homophiler (SOH).

[...] Für einen Dermatologen, der auch bereits 'von Repression gehört' hat, ist 'klar, dass eine Homo-Sauna ein ganz heisser Ort ist. Aber schreiben Sie das nicht', schränkt er ein, 'mir tun die armen Saunaeigner leid.' Saunaeigner und Barbesitzer schweigen, haben zum Teil das Wort 'AIDS' angeblich noch nie gehört. 'Alles Theater', behauptet einer von ihnen, 'irgendwann muss doch jeder einmal sterben.'

[...] Während die einen monogame Freundespaare beneiden und in Zeitungsanzeigen einen festen Partner ('kein Lokalgänger') suchen, andere offen von Selbstmord sprechen, falls sie an AIDS erkranken sollten, gibt es eine weitere Gruppe von Homos, welche die kribbelnde Verbindung von Sex und Tod wollen. Sie schlafen wahllos mit jedem, der Hosen trägt und willig ist, ganz unter dem Motto: 'Habe ich AIDS, dann sollen's die andern auch haben. Aber ich habe wenigstens ausgiebig gelebt.'

[...] Das Bundesamt für Gesundheitswesen plant in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Blutspendedienst, die Homosexuellen aufzufordern, kein Blut mehr zu spenden."

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Ernst Ostertag, August 2007

Quellenverweise
1

Tages-Anzeiger, 4. Juli 1983