1985

Auseinandersetzung

Die HACH (Dachorganisation der Homosexuellen Arbeitsgruppen Schweiz) hatte für ihre Zusammenarbeit beim neuen Flugblatt "MACHsch au mit?" ausbedungen, dass "nicht nur medizinische, sondern auch gesellschaftliche und politische Aspekte berücksichtigt werden müssten".1 Offenbar wurde diese Bedingung missachtet, weil sich jene Leute durchsetzten, die den Kampf um gesellschaftliche und politische Gleichberechtigung nicht auf dem Buckel von Aids-Kranken austragen wollten. In ihren Augen galt Aids als medizinisches Problem, das sofort anzugehen war, und das musste in vielen Köpfen erst einmal von den bisher im Vordergrund stehenden grossen Zielen der Emanzipation und Befreiung abgekoppelt werden.

Andererseits musste man gerade jetzt besonders wachsam sein für den Fall, dass irgendwer die "Schwulenseuche" für neue Formen der Diskriminierung missbrauchen wollte. Dafür setzte sich die HACH jetzt und später deutlich ein.

Somit gab es zwei Ebenen des Kampfes, jene der Aids-Eindämmung und Solidarität und jene des persönlichen Befindens, der sozialen, gesellschaftlichen und politischen Einsätze. Dass die eine Ebene die andere positiv beeinflussen könnte, diese Erkenntnis brauchte Zeit und war im Moment erst den wenigsten vorstellbar.

Dazu Beat Gerber:2

"Anders als die HABS (Homosexuelle Arbeitsgruppen Basel), welche das Faltblatt unterstützten,3 kritisierten die HAB (Homosexuelle Arbeitsgruppen Bern) nicht nur das Vorgehen, sondern fanden auch den Inhalt radikal falsch. Die ausschliessliche Konzentration auf das Sexualverhalten und das Aufstellen von Verhaltensvorschlägen suggeriere, dass unverantwortlich handle, wer sich nicht daran halte."4

Die Berner versuchten, sich an einem HAB-Wochenende sowohl über Krankheit, Verhaltensregeln, Eindämmung wie über rein Menschliches, Hintergründe, Auswirkungen, Betroffenheiten etwas klarer zu werden. Sie formulierten ihre Gedanken in einer Stellungnahme vom 17. April 1985, veröffentlicht im Anderschume HACH-Info 2/1985, S. 14/15 unter dem Titel "Zwätschgegrill good bye?"5:

"Wir haben den Eindruck, dass in der bisherigen Diskussion über Aids wesentliche Aspekte ausgeklammert werden. Die einen sehen nur die medizinisch-virologische Seite, die anderen verlegen sich mit Vehemenz auf die gesellschaftliche/politische Ebene.

Die Diskussionsinhalte wurden uns von aussen aufgezwängt. [...]. Durch die Beschränkung auf die zwei oben genannten Ebenen gelang es uns, bewusst und unbewusst, uns selbst auszugrenzen: unser persönliches Erleben konnten/durften/wagten wir nicht auszusprechen. - Dadurch blieb jeder für sich ALLEIN.

Typisch männlich sprachen wir nur über Aids, versuchten das Problem mit dem Kopf unter Kontrolle zu bringen. Wir sprachen nicht darüber, was Aids in uns bewirkt, verändert, verändern könnte."

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Ernst Ostertag, Januar 2008

Quellenverweise
1

Beat Gerber, Lila ist die Farbe des Regenbogens, Schwestern, die Farbe der Befreiung ist rot. Die Homosexuellen Arbeitsgruppen der Schweiz (HACH) von 1974-1995, Seite 119, "Protokoll der HACH-Sitzung vom 9. März 1985"

2

Beat Gerber, Lila ist die Farbe des Regenbogens, Schwestern, die Farbe der Befreiung ist rot. Die Homosexuellen Arbeitsgruppen der Schweiz (HACH) von 1974-1995, Seite 120

3

Brief des Basler Grossrats Erwin Ott an die HAB, 29. März 1985

4

Brief an HACH-Delegierte vom 21. März 1985 und Protokoll HACH-Sitzung vom 20. April 1985

Anmerkungen
5

Zwätschge = Tunte, und Zwätschgegrill heisst die bei Schwulen beliebte Bretter-Terrasse im Berner Marzili-Bad an der Aare