2001
Stimmungsbild
… vor einer Kantonsratssitzung
Ein Stimmungsbild vor einer der entscheidenden Kantonsratssitzungen, beschrieben von Ruedi Baumann im Tages-Anzeiger vom 4. September 2001:1
"[...] Da schlenderte zum Beispiel die SVP-Fraktion vom Morgenkaffee Richtung Rathaus. 'Schon wieder eine Demo', murrte der eine. 'Das sind die Riesbach-Schüler', brummte der zweite. Und dann fiel's im Chor ein: 'Nein, das sind doch die Schwulen.' 100 Frauen und Männer demonstrierten auf der Strasse für die Registrierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, darunter auch Kantonsrat Hans-Peter Portmann (FDP, Kilchberg). [...]
Und da standen ganz hinten auch zwei ältere, zufriedene Männer mit dem Transparent 'Ein Paar seit 45 Jahren - rechtlos': Ernst Ostertag und Röbi Rapp, beide 71-jährig und seit 50 Jahren in Schwulenorganisationen aktiv. [...] Öffentlich bekennen sie sich zu ihrer Partnerschaft aber erst seit der Pensionierung. [...] 1942 sei die Schweiz punkto Gesetz gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe Spitze gewesen, 'heute sind wir im westlichen Europa am Schwanz', sagt Rapp, 'wenn man das so sagen darf'.
Was geschickte Medienarbeit betrifft, sind die Schwulen- und Lesbenorganisationen den Ärzten und Apothekern mindestens ebenbürtig. In den Zeitungen erschienen Vorschauen, eine handvoll TV-Kameras filmte, ebenso viele Radiostationen sammelten O-Töne und die Zeitungsreporter interviewten fleissig. Dabei figurierten die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften in der Traktandenliste des Rats weit hinten. [...] So mussten schliesslich die Schwulen auf der Tribüne von Ratspräsident Martin Bornhauser auf den 29. Oktober vertröstet werden."
Auf den Beschluss des Rates an diesem 29. Oktober gab es unter anderem Reaktionen in Form von Leserbriefen, zwei davon aus dem Tages-Anzeiger vom 3. November 2001 unter "Zürich setzt Zeichen":2
"Was soll man davon halten, dass der Zürcher Kantonsrat mit 88 gegen 56 Stimmen guthiess, dass gleichgeschlechtliche Paare ähnliche Rechte wie Ehepaare haben sollen? [...] Manche Argumente der Befürworter waren verdrehte Tatsachen. Der Mensch werde hetero- oder homosexuell geboren, das ist längst widerlegt. Sogar wurde behauptet, es sei von Gott gegeben. Gott ist aber sicher nicht absurd. [...]
Ich habe ungezählte Berichte gelesen von Menschen, die erkannten, dass ihre gleichgeschlechtliche Sexualität unnatürlich und schöpfungswidrig war. Viele bekamen durch den Glauben an Jesus die Motivation, davon loszukommen; sie haben gesagt, dass die gehabten Beziehungen nicht wirklich erfüllend gewesen seien."
Ursula Lörcher
"[...] Das Parlament bewies Toleranz und Offenheit. Mit seinem zukunftweisenden Ja [...] legt der Kantonsrat ein Bekenntnis zur modernen Gesellschaft, zur Vielfalt möglicher Lebensentwürfe sowie zur persönlichen Freiheit des Einzelnen ab. Er setzte aber auch ein Zeichen für Solidarität und gegenseitige Verantwortung. [...] Nicht offen gelebte, staatlich geschützte homosexuelle Partnerschaften bedrohen die Familie, sondern versteckte und unterdrückte Neigungen. Wer seine Liebe offen lebt, bereichert den sozialen Zusammenhalt. Und das ist weder subversiv noch anstössig, sondern richtig."
Susann Birrer
Ernst Ostertag, Oktober 2008
Quellenverweise
- 1
Ruedi Baumann, Tages-Anzeiger, 4. September 2001, Seite 25
- 2
Tages-Anzeiger, 3. November 2001