1993

Zur Halbinsel Au

… mit dem Erziehungsdirektor

Barbara Bürer, die bekannte Journalistin und beliebte Verfasserin berührender Portraits von Menschen aus allen Schichten, setzte im Zürcher Tages-Anzeiger den Titel:1

"Regierungsrat Gilgen: 'Viel Erfolg beim Singing-out!' Der Erziehungsdirektor empfing auf der Halbinsel Au die Sängerinnen und Sänger des SchwuLesbischen Chorspektakels".

Regierungsrat Alfred Gilgen (LdU) war als kantonal-zürcherischer Erziehungsdirektor auch Kulturminister. Der "Erfolg beim Singing-out" begann mit der gemeinsamen Fahrt aller Teilnehmenden auf dem Zürichsee. Dazu Barbara Bürer:

"So viel Aufmerksamkeit ist [...] Gilgen schon lange nicht mehr zuteil geworden. Da sitzt er auf einem Holzstuhl an einem Zweiertischchen, die eine Hand spielt mit dem orangen Tischtuch, mit der anderen stützt er den Kopf. Der Regen peitscht gegen die angelaufene Fensterscheibe. [...] Ihn selbst scheint das nicht zu beeindrucken. Obwohl es doch Leute gegeben haben soll, die nicht verstanden hätten, dass er sich, wie er jetzt sagt, für 'so etwas' hergebe, die ihn fragten: 'Muess das si?' Denen habe er es ja zu erklären versucht. Was soll's, nun ist er da. [...]

Die 'Helvetia', ein Schiff der Zürichseeflotte, pflügt ihren Weg durch das unruhige Wasser. 500 Menschen sind an Bord, Frauen und Männer des internationalen Chorspektakels, das seit Donnerstag in Zürich stattfindet. Es ist Freitagmittag, und die Extrafahrt führt zur Halbinsel Au [...]

'Muess das si?' Einem Journalisten hat er vor ein paar Tagen bereits diktiert, dass dieses [...] Chortreffen 'einen hohen künstlerischen Wert' habe. Deshalb würde er die Frauen und Männer empfangen - was sie im Bett treiben, sei ihm doch egal. Er zündet die Brissago2 an. In seinem Rücken spielen ein paar Männer Musik, neben ihm umarmt und küsst sich ein männliches Paar. Er registriert es, da hat er, sagt er, keine Probleme damit.

Toleranz ist ihm wichtig. Diesen Satz, natürlich ausgefeilt, wiederholt er [...] mehrfach. Für alle, die es hören wollen [...]. Er tendiere in der Erziehung zu Toleranz. Das sei das wichtigste Ziel. 'Toleranz gegenüber Rassen, Religionen, Sprachen und Randgruppen.'

[...] Die 'Helvetia' hat in der Au angelegt. Im Wanderschritt, zwei neben zwei, geht es den Hügel hinauf, und der Wettergott hat kein Einsehen, wie in Bindfäden kommt der Regen vom Himmel. Die nassen Schuhe verschmieren später den auf Hochglanz polierten Boden des Schlossgutes.

[...] Er geht zum Mikrophon. Im Haus ist es nun ganz still. [...]

Und er hat die Lacher - wenigstens der Männer - gleich bei der Anrede auf seiner Seite: 'Sehr geehrte Damen und Herren. Ich könnte aber auch sagen: Sehr geehrte Damen oder Herren.' Er erklärt, weshalb er hier steht, er, von dem vermutet werde, er sei [...] nicht mehr 'helle bei Sinnen'. Nein, seine Sinne seien noch voll da. Er gebe diesen Empfang, 'um die Toleranz, die ich fordere, auch zu praktizieren' und damit 'einen kleinen Beitrag für die bessere Integration von Homosexuellen in die Gesellschaft zu leisten.'

Der Applaus brandet ihm entgegen. Immer wieder muss er die witzige Rede unterbrechen. Und er geniesst es. So auch, als er mit dem Satz endet: 'Viel Erfolg beim Singing-out!' Die Frauen und Männer jubeln. 'Klasse war es', sagt einer aus Deutschland, 'bei uns würde kein Minister hochoffiziell Schwule und Lesben begrüssen'.

Alfred Gilgen hat sich inzwischen ein paar Schritte vom Mikrophon zurückgezogen. [...] So steht er nun da mit verschränkten Armen und kann nicht glauben, was er hört. Deshalb kommt er noch einmal zum Mikrophon: 'Soviel Applaus habe ich in meiner 22-jährigen politischen Karriere noch nie gehabt.'

Er sagt es, und das Klatschen geht später in Chorgesang über. [...]"

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Ernst Ostertag, Juni 2008

Quellenverweise
1

Tages-Anzeiger vom 22. Mai 1993

Anmerkungen
2

"Brissago" ist eine besondere Art von krummer, dünner Zigarre, hergestellt in Brissago (TI), im Volksmund "Sargnagel" genannt.