Newsletter 76
Mai 2016
Dieser Newsletter enthält folgende Themen:
- Kolumne: Vor 40 Jahren: Gründung der Elternkontaktstelle
- Generalversammlung des Vereins schwulengeschichte.ch
- Podiumsdiskussion zur Schwulenbewegung gestern und heute
Vor 40 Jahren: Gründung der Elternkontaktstelle
eos. Jede Lesbe und jeder Schwule hat in der Regel eine Herkunftsfamilie, also Eltern und Geschwister. Das Erkennen, dass eine Tochter, ein Sohn, eine Schwester, ein Bruder vermutlich homosexuell sein könnte, geschieht nicht plötzlich, und das Anerkennen dieser Tatsache ist meist ein langer und oft schmerzhafter Prozess. Die erste Mutter, die aus dieser Erfahrung merkte, dass Familien mit homosexuellen Kindern Unterstützung brauchen und sich deswegen gegenseitig kennen lernen und aussprechen sollten, war "Mutter Krieg", wie man sie bald überall nannte. Sie gründete 1976 die erste "Elternkontaktstelle" der Schweiz als eine Art Selbsthilfe-Gruppe und leitete diese acht Jahre lang.
Irma Krieg-Morath war bei der Gründung 59 Jahre alt. Sechs Jahre zuvor hatten sie und ihr Mann (der unheilbar krank war und ein gutes Jahr später starb) den Sohn zur Rede gestellt und eine klare, ehrliche Antwort erhalten. "Ja, ich bin schwul und werde es mein Leben lang sein!" Als gläubige Christen trugen die Eltern schwer daran. Doch gerade der starke Glaube und das aktive Mitfühlen des Sohnes, der für aufklärende Literatur sorgte, liess sie an diesem Problem reifen. Es ging doch um Liebe, die wohl wichtigste Botschaft von Jesus Christus. Leicht war es dennoch nicht. Aber an Weihnachten sass der Freund des Sohnes mit am Familientisch. Und beim langen Abschiednehmen vom Vater halfen sie sich gegenseitig. Das liess sie zusammenwachsen. Der Sohn, Max Krieg (geboren 1946), wohnte und arbeitete damals in Lugano, wo er 1972 Mitbegründer des ersten schwulen Clubs im Tessin war, des "Club In", der bis 1983 bestand. Später, als er beim selben Arbeitgeber, den SBB, in Bern tätig war, gründete er 1997 zusammen mit anderen PinkRail, die erste schwul-lesbische Gewerkschaft der Schweiz.
Die Leere nach dem Verlust des Gatten und ein Bericht über Eltern, die in den USA eine Kontaktstelle eröffnet hatten, brachte Mutter Krieg auf die Idee, etwas Ähnliches in ihrem Umfeld zu versuchen. Ihr Sohn Max unterstütze sie dabei, wo immer er konnte. So kam es im Mai vor 40 Jahren zu einer Leserbriefaktion in diversen Zeitschriften mit dem Aufruf, ähnlich betroffene Eltern sollten sich bitte melden. Geplant seien regelmässige Zusammenkünfte, um sich gegenseitig auszutauschen; auf diese Weise habe das Alleinsein mit dem Problem ein Ende. Denn mit nahen Verwandten oder Freunden sprechen ist allermeist unmöglich. Es entsteht nur dummes Gerede und endloses Erklären-müssen. Das Problem wirklich begreifen und verstehen können nur jene, die ihm in der eigenen Familie täglich begegnen.
Über den Sohn trat Irma Krieg-Morath in Kontakt mit Gruppierungen von Schwulen und Lesben. Zugleich meldeten sich einige Eltern, denen der Aufruf und Leserbrief ein wichtiges Zeichen, ja ein Signal der Hoffnung war. Bald gab es regelmässige Treffen. Aber die Mütter blieben fast ausnahmslos unter sich. Väter wichen aus und drückten sich. Ein homosexuelles Kind zu haben und dieses "Versagen" zu bekennen, das war eine hohe Hürde. Und dann gar öffentlich für die Rechte solcher Kinder einzutreten, kratzte nochmals arg am Bild des "echten" Mannes. Damals war es so. Und heute? Viele Väter überlassen diese Frage zumindest anfänglich der Mutter, die es "besser kann".
Die Mütter aber blieben beim Namen "Elternkontaktstelle" und liessen damit die Tür für Väter geöffnet. Und bald vernetzten sie sich mit anderen Stellen, die sie willkommen hiessen: reformierte kirchliche Institutionen (etwa das Evangelische Tagungs- und Studienzentrum Boldern, ZH), dann auch Frauenvereine, Jugendgruppen, Zeitschriften und Tageszeitungen und natürlich Organisationen von Homosexuellen. Dort nahm man sie mit Begeisterung auf und bot volle Unterstützung an. Denn Schwulen und Lesben war die Tragweite einer engen Zusammenarbeit mit Eltern sofort klar. Wenn Eltern, also Heterosexuelle, mit denselben Forderungen nach Akzeptanz und Ende der Diskriminierungen, mit dem Ruf für verfassungskonforme rechtliche Gleichstellung in die Öffentlichkeit treten, dann haben diese Stimmen ganz klar mehr Gewicht. Einer Mutter, die für alle ihre Kinder dieselbe Freiheit der Entfaltung und Lebensführung geltend macht, hören die Menschen zu. Denn ihr Anliegen ist das, was alle Mütter wollen. Und mit ihr identifiziert sich jede Frau und auch jeder Mann.
Eine weitere neue Tatsache trat ins Bewusstsein der schwul-lesbischen Polit-Gruppen: Lesben und Schwule allein machen mindestens fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung aus. Mit der wachsenden Zahl von Eltern und Geschwistern, die zu ihnen stehen, werden diese Prozentzahlen verdreifacht und steigen auf 15 bis 20 Prozent. Und das, wie später der Slogan hiess, als es um Gesetzesänderungen und Abstimmungen ging, waren mehr Mitbürger im ganzen Land, als es Bauern gibt.
Mutter Krieg führte ihre Kontaktstelle acht Jahre lang. Zahlenmässig blieb es eine kleine Gruppe. Aber sie war weit herum bekannt, und ihr Einfluss war gross. Dann ermüdete die mutige Frau. Es war niemand da, weder eine andere Mutter noch ein Vater, die einspringen wollten. 1984 schlief das Werk ein.
Doch elf Jahre später kam ein jüngeres Elternpaar, Hanna und Walter Keller, auf dieselbe Idee. Sie hatten eine lesbische Tochter. Und die wollten sie nicht allein lassen, ihr wollten sie tatkräftig Unterstützung geben auf dem Weg in ein freies Leben ohne Ausgrenzungen. Dafür wollten sie beide, Vater und Mutter, in aller Öffentlichkeit kämpfen. Sie suchten Gleichgesinnte und erfuhren von der Pionierin "Mutter Krieg". So kam es ein Jahr später zum Treffen mit der nun fast 80jährigen. Das war im Frühling 1996. Frau Krieg gab dem Ehepaar Keller viele ihrer Unterlagen; es war eine Art Stabübergabe. Nur ein halbes Jahr später fand die Gründung eines Vereins statt, der bis heute den Namen "fels" trägt (Abkürzung für Freunde, Freundinnen und Eltern von Lesben und Schwulen).
Mehr auf Elternkontaktstelle
Generalversammlung des Vereins schwulengeschichte.ch
cdg. Die Generalversammlung des Vereins schwulengeschichte.ch findet am Mittwoch, dem 8. Juni 2016, in der "Fraumünsterpost" in Zürich statt. Gastgeber wird die Unternehmensberatung Accenture sein, die in den oberen Geschossen des Postgebäudes einige ihrer Büroräumlichkeiten unterhält. Die Einladung an die Vereinsmitglieder mit dem detaillierten Programm wird in den nächsten Tagen fristgerecht per E-Mail verschickt. Neumitglieder sind ebenfalls herzlich willkommen (bitte um Mitteilung an unsere Mail-Adresse, damit wir die Tagungsunterlagen zustellen können).
In die Schlagzeilen geriet die Fraumünsterpost durch den Postraub von 1997. Fünf mit Spielzeugpistolen bewaffnete junge Männer erbeuteten damals 53 Millionen Franken. Der Fraumünster-Postraub ging in die Schweizer Kriminalgeschichte ein. Wesentlich diskreter, aber nicht uninteressant war 44 Jahre zuvor die Anfrage der Bundesanwaltschaft an den Zürcher Regierungsrat Walter König. In ihrem Schreiben bat sie diesen, Erkundigungen über den KREIS und dessen Publikation einzuholen. Bei den weiteren Ermittlungen zog auch das Postfach 547, die Korrespondenzanschrift für die Monatsschrift Der Kreis, das Interesse der Zürcher Kantonspolizei auf sich. Die Direktion wollte wissen: "Wer ist der Inhaber des Postfaches 547, Fraumünsterpost?"
Mehr dazu bei Observation
Podiumsdiskussion zur Schwulenbewegung gestern und heute
cdg. Im Anschluss an die Generalversammlung am 8. Juni und im Rahmen der Pride Week findet ebenfalls in der Fraumünsterpost eine Podiumsdiskussion zur Entwicklung und Wirkung der Schwulenbewegung in der Schweiz von den Anfängen bis heute statt. Der Verein schwulengeschichte.ch freut sich sehr über die Zusage der Gesprächspartner Bastian Baumann, Daniel Bruttin, Ernst Ostertag und Marcel Tappeiner. Moderiert wird das Podium von Patrick Rohr.
Datum: Mittwoch, 8. Juni 2016
Beginn: 19.30 Uhr
Ort: Fraumünsterstrasse 16, 8001 Zürich
Anmeldung erwünscht (bis am 7. Juni)