Newsletter 154

Oktober 2022

Diese Ausgabe enthält folgendes Thema:

  • Eine "unverschämte" Ausstellung zum 30. Jubiläum der HAZ

Eine "unverschämte" Ausstellung zum 30. Jubiläum der HAZ

eos. Am 22. September vor 20 Jahren ist im Kanton Zürich das erste Partnerschaftsgesetz in der Schweiz Wirklichkeit geworden. Fast 63% warfen ein JA in die Urne. Fast 2/3 der Zürcher Bevölkerung schenkten also den Homosexuellen ein Sonderrecht zur Registrierung ihrer Partnerschaften, zur damals bestmöglichen rechtlichen Gleichstellung mit der Ehe. Bis zu vollständig gleichen Rechten, wie es in der Bundesverfassung steht, lagen noch weitere Kämpfe vor uns. Aber die Ächtung von Homosexuellen war gebrochen. Eine andere Sichtweise, ein anderes Bewusstsein hatte sich etabliert.

Und das war auch der richtige Zeitpunkt, unsere Geschichte sichtbar zu machen. Unsere Geschichte ist Teil der schweizerischen Sozialgeschichte. Sie war bis jetzt fast gänzlich unbekannt. Das sollte sich nun, 2002, zum 30. Jubiläum der HAZ ändern. Und noch ein weiteres Jubiläum gehörte dazu: Die erste Vereinigung von Homosexuellen in unserem Land begann 1932 ihren Kampf um Anerkennung mit einer eigenen Zeitschrift. Seit diesem Anfang waren 70 Jahre vergangen.

Vorlauf

Jede Ausstellung birgt eine gewaltige Arbeit, von der nur wenige ahnen, wenn sie fertig ist und die ersten Besucher erscheinen. Und immer ist die Zeit zur Realisierung zu kurz, das Eröffnungsdatum hängt wie eine stets mahnende Peitsche im Nacken der Verantwortlichen.

Doch davon wussten wir noch nichts, Röbi und ich, als wir Anfang 2001 an einer HAZ-Vollversammlung teilnahmen. Es ging um Vorschläge zur Gestaltung des 30. Jubiläums. Vieles wurde genannt und meist rasch verworfen. Schliesslich fand die Idee einer Ausstellung zur Geschichte unserer Organisation mehr und mehr Zustimmung. Das gefiel uns beiden gar nicht. Denn ein Jahr zuvor hatte es im Landesmuseum im Rahmen des Kulturprogramms der EuroGames, die damals in Zürich stattfanden, eine Ausstellung über den KREIS gegeben. Sie war erfolgreich gewesen und viele erinnerten sich noch lebhaft daran. Schon wieder das Thema Ausstellung wählen, erschien uns billig und fantasielos. Die heftiger werdende Diskussion wollten wir mit einem Kompromissvorschlag entschärfen und bemerkten, wenn Ausstellung, dann eine noch nie dagewesene, eine zur gesamten Geschichte der Schwulen in der Schweiz, und das zusammen mit den Lesben und ihrer Geschichte.

Zunächst war es still. Dann sahen viele den möglichen Ausweg. Dieses Projekt löste ihre Furcht vor intensivem Mitwirken-müssen und Freizeit-opfern. Man konnte es einfach uns anhängen. Genau das wurde schliesslich beschlossen. Dafür sicherte man uns die Übernahme des finanziellen Risikos durch die HAZ zu und - noch wichtiger - gleichzeitig schuf die HAZ eine für das Sponsoring zuständige Gruppe, die zudem sämtliche Ausgaben kontrollieren sollte. Sie stand unter der Leitung von Christian Fuster. Das entlastete uns und später auch das Frauenteam von allen Budgetsorgen, hielt uns aber auch vor Überborden unserer Vorstellungen und Wünsche zurück. Als erstes verhandelte Christian mit dem zuständigen städtischen Beamten über den von uns gewünschten Ausstellungsort und wir beide präsentierten dabei Skizzen des Projekts. Das Ergebnis erfuhren wir am nächsten Tag: Wir erhielten das Stadthaus.

An die Arbeit!

Nun begann eine Zeit mit weit intensiverem Arbeitseinsatz, als je vor unserer Pensionierung. Bis nur die ersten Frauen mit ins Boot stiegen, vergingen Monate, in denen wir ein kleines Team zusammenstellten und uns ans aufwendige Recherchieren und Sammeln machten. Wir listeten Namen von Zeitzeugen auf, besuchten und befragten sie, durchstöberten ihre Briefe, Fotos, Tagebücher, forschten in Archiven, führten Telefongespräche, wobei der eine Fragen stellte, der andere alles notierte. Wir reisten in die Stammlokale von Organisationen und Gruppen, es füllten sich Schachteln und Ordner, die wir im Keller lagerten. Dann aber kamen die Frauen und setzten sich gewaltig ein, forderten gleichviel Platz für ihre Geschichte, führten heisse Auseinandersetzungen mit uns und pochten auf grösstmögliche Aufmerksamkeit mit der Begründung, sie seien zuvor immer vergessen worden.

Tatsächlich, für uns war es leichter. Fast alles lag offen da, gehörte meist zu unserer eigenen persönlichen Geschichte und jener von Männern, die wir kannten oder gekannt hatten. An uns, die Dinge einzusammeln, zu ordnen und mit zusammenfassenden Texten zu versehen. Schon das war anstrengend, denn die Fülle an Objekten war enorm. Die Frauen hingegen mussten die Spuren ihrer Geschichte zuerst mühsam suchen, dann sichten und zusammenfügen. Es gelang ihnen, ein grosses Team zu bilden, das sich auf viele einzelne Abschnitte und dafür Verantwortliche aufteilte. So konnte jede Mitarbeiterin ihr Dossier selbständig erforschen und gestalten. 

Die Frauen fanden auch eine erfahrene Ausstellungsmacherin, die alle Materialien, auch die unsrigen, richtig auswählte und gewichtete. In gemeinsamer Arbeit mit unserem Grafiker wuchs das Ganze langsam zur eindrucksvollen Schau. Zusätzliche Info-Dokumentationen trugen die Frauen und wir in Begleit-Ordnern zusammen. Sie lagen offen bei jedem Ausstellungsabschnitt und boten damit Interessierten die Möglichkeit, sich weiter in Details zu vertiefen. Auch einige Ton- und Bildstationen sollten Erinnerungen wecken oder Einblicke in Neues erschliessen: Gespräche mit ehemaligen Betreuern von Aidskranken, Musik des ermordeten Komponisten Robert Oboussier, Ausschnitte der Telearena Homosexualität vom April 1978.

Inhalt und Aufbau

Ziel aber blieb, jedem Besucher eine vielschichtige, meist unbekannte Geschichte nahe zu bringen und zum Erlebnis werden zu lassen, die Geschichte einer oft verachteten Minderheit von Mitmenschen. Dazu gab es chronologisch geordnete Abschnitte auf Bildtafeln mit Kurztexten.

Den Anfang machten Pioniere im 19. Jahrhundert und erste Frauen, die an den ersten für sie offenen Universitäten studieren durften. Ein solcher Abschluss ermöglichte ihnen frei und unabhängig von einem Ehegatten leben zu können, auch als Frauen-Paare. Es folgten Darstellungen früher Gruppierungen und Organisationen von Frauen und Männern bis - im Vorfeld der Abstimmung über das erste eidgenössische Strafgesetz 1938 - zur politisch tätigen Gruppe "Menschenrecht". Weitere Tafeln zeigten die Geschichte der ab 1952 international gewordenen Organisation DER KREIS und ihrer dreisprachigen Zeitschrift, sowie ihre grossen Festveranstaltungen.

Mit den Morden im Männermilieu folgten dunkle Abschnitte zu den Razzien der Polizei und zur Verfolgung und Ausgrenzung in Presse und Gesellschaft während den zehn Repressionsjahren ab 1960. Zwei Schritte weiter standen die Stellwand-Reihen des Abschnitts "Aufbruch". Dort präsentierten sich die neuen progressiven Organisationen von Männern und Frauen der 70er- und 80er-Jahre. Der Ausbruch von Aids mit seinen zahllosen Opfern ab 1983 und dem Aufbau der Aids-Hilfe-Organisationen und den Präventionskampagnen fand auf Text-Bild-Wänden eine klare, eindrückliche Darstellung, und in einem Schaukasten gab es erstmals Anleitungen zur Aids-Prävention für Frauen. Mit knappen Worten zur Strafrecht-Reform von 1992 und den Gründungen von LOS und Pink Cross endete die eigentliche Geschichte.

Abschluss bildete ein grosser sechsteiliger Abschnitt in den Farben des Regenbogens, dargestellt durch sechs über die Brüstung gehängte Stoffbahnen. Darüber stand der Titel "Regenbogenkultur". Schaukästen und Wände hinter jeder Farbe thematisierten je ein bestimmtes Entwicklungsziel, einen Aspekt oder Tätigkeitsbereich unserer Community. Dieser anregende Schluss war hauptsächlich das Werk des Frauenteams. Damit wollten sie nach den Rückblicken der Ausstellung die Themen und Aufgaben der aktuellen Zeit und der kommenden Jahre aufzeigen: "Es geht weiter, vielfach, selbstsicher und bunt!"

Eröffnung

Im Endspurt vor der Eröffnung steigerte sich der Einsatz von allen dramatisch. Tausend Dinge mussten noch zum Klappen kommen, auch Fragen der eigenen Bekleidung. Man tröstete uns, das sei normal. Dennoch, es war Stress pur, und die Nerven zerrissen beinahe, als sich plötzlich Presseleute aus dem Ausland und die Vorgänger von World Radio Switzerland meldeten mit sofortigem Zeitanspruch für Interviews und Aufnahmen in Ton und Bild (in Englisch). Zugleich hatten wir Generalprobe für unsere Auftritte mit prägnanten, selbst verfassten kurzen Statements, für die Sitzordnung, das Nebeneinander mit Musikern, dem Platz für Blumenschmuck.

Dann ging's los, die Eingangshalle füllte sich mit geladenen Gästen, viele fanden keinen Platz und stiegen in die oberen Ränge. Der schwule Männerchor Zürich schmaz betrat in Vollzahl die Bühne, Irène Schweizer setzte sich an den Flügel, Stadtpräsident, Mitglieder des Stadt- und Gemeinderats, weitere bekannte Persönlichkeiten aus Kultur und Medien, Frauen und Männer aus schwulen und lesbischen Organisationen der halben Schweiz, vor allem aber die Hauptredner und -rednerinnen sassen in den ersten Reihen. Es wurde still. Die Eröffnungsfeier zu "unverschämt, Lesben und Schwule gestern und heute" nahm Fahrt auf. Und am nächsten Tag, dem internationalen Coming Out Day COD, also am 11. Oktober 2002 wurden die ersten Besucher empfangen.

Begleitprogramm und Ablauf

Unserer Ausstellung wollten wir auch ein ergänzendes Begleitprogramm zur Seite stellen. Dazu organisierten die Frauen bekannte Historikerinnen, die im prall gefüllten Kleintheater STOK wie auch im Hof des Stadthauses spannende Details und prägnante Einführungen in einzelne Kapitel und Aspekte der Lesbengeschichte aufzeigen und schildern konnten. Wir beiden fanden Künstler, Psychologen, Historiker und Aktivisten für eine siebenteilige Vortragsreihe und zusätzlich einen literarischen Lese-Anlass im Zürcher Bahnhofbuffet. Daneben liess Röbi seinen Text- und Chanson-Abend "Menschlicher Zirkus" in neuer Form mit Pianist und Conférencier im Theater Keller 62 aufleben. Er hatte ihn letztmals vor vierzig Jahren auf die Bühne des KREIS gebracht und spielte nun vom 12. bis 15. Dezember - und weil der Andrang so gross war, hängte er am 22. Dezember noch eine fünfte Vorstellung an.

Mit einer Sondergenehmigung gelang es, das Stadthaus auch samstags bis 12.30 geöffnet zu halten. Gemäss offiziellen Bürozeiten schliesst es normalerweise am Freitagabend. Der Samstag war uns wichtig, weil dadurch die Besuchsmöglichkeiten erweitert wurden und wir besonders viele Führungen auf diesen Vormittag ansetzen konnten. Allerdings trugen wir nun die Verantwortung für stets korrekte Rückgabe der Schlüssel und auch dafür, dass niemand eingeschlossen wurde. Auf Wunsch von Gruppen oder Einzelpersonen wechselten wir nach dem Rundgang jeweils in eines der nahen Restaurants, assen gemeinsam und führten weitere Gespräche. Die Samstage waren ideal.

Besucherinnen und Besucher

"unverschämt" zählte zu den erfolgreichsten Ausstellungen im Stadthaus und die über 100 Führungen durch Frauengruppen und uns beide wurden zu Highlights für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wie auch für jede und jeden von uns selbst. Sie sind bis heute unvergessen.

Waren keine Führungen angemeldet, zog es uns und einzelne der Frauen dennoch ins Stadthaus, und wir sprachen Besucherinnen oder Besucher ganz direkt an. So entstanden viele persönliche, oft bewegende Gespräche. Ganz allgemein kamen die meisten Fragen von heterosexuellen Frauen, von Müttern und Grossmüttern. Es schien uns immer wieder, dass ein Gang durch die bebilderten Geschichten von homosexuellen Mitmenschen oft nur ein Anlass war, um solche Leute persönlich zu treffen und zu sprechen, um lange Verschwiegenes mitteilen und Fragen stellen zu können. Unser Einfühlungsvermögen und die psychologische Intuition waren eher gefragt, als das historische Wissen. Und damit erreichte die Ausstellung eine andere, noch umfassendere Bedeutung.

Aber es gab auch eine Schattenseite, die uns beide zunehmend mehr betraf als das Lesben-Team, nämlich die ungleiche Verteilung der Besucherzahlen. Über 60% waren Frauen und von den knapp 40% Männern waren fast alle schwul. Eine beklemmende Tatsache. Wo blieben alle anderen, die heterosexuellen Männer? Es war wohl so, dass damals viele von ihnen mental etwa dort standen, wo sich heute noch der Männer-Fussball befindet, in einer machistischen Getto-Welt, in der jeder Öffnungsversuch Angst vor Identitätsverlust erzeugt.

schwulengeschichte.ch

Am Ende der Ausstellung, also kurz vor dem 18. Januar 2003, kam der Stadtpräsident, Elmar Ledergerber, zu uns und bemerkte, es fehle ein Katalog. Das gehöre zu jeder Ausstellung im Zürcher Stadthaus. Wir sollten ihn nachträglich noch liefern. Wir waren alle total ausgelaugt, und restlos aufgebraucht waren auch die Finanzen. Mit Ledergerbers Sekretärin kamen wir überein, dass die Frauen eine Broschüre als Rückblick in Bildern und ganz wenig Text herstellen, während Röbi und ich den Katalog zur Schwulengeschichte in etwa einem Jahr nachliefern würden.

Zunächst aber nahmen wir eine Auszeit von etlichen Monaten. Schliesslich waren wir 73. Dann begannen wir mit dieser neuen Aufgabe. Wir merkten rasch, dass es für einen Katalog umfangreichere Recherchen brauchte als für eine Ausstellung. Wir mussten alles Material nochmals und genauer erfassen und die Texte sorgfältiger und detaillierter formulieren. Das Ganze dehnte sich zu einem gewaltigen Buchprojekt. Nach fünf intensiven Jahren sprengte es auch die Buchform. Schliesslich konnte es Ende Juni 2009 zur EuroPride in Zürich als Website "schwulengeschichte.ch" mit einem Festakt aufgeschaltet werden. Anwesend war die neue Stadtpräsidentin, Corine Mauch, der Kantonalzürcher Regierungsrat für Kultur, Markus Notter, und viele andere hochrangige und sonstige Gäste. Dennoch, es brauchte weitere zehn Jahre bis die heutige Form einer leicht zugänglichen, übersichtlichen, gut funktionierenden Website geschaffen war - und natürlich entwickelt sie sich ständig weiter.

Das Entscheidende und Bleibende aber ist das Sichtbarmachen der Vergangenheit, der bewegten Geschichte von homosexuellen Mitmenschen in unserem Land. Mit der Website wurde die Ausstellung von damals permanent. Sie wirkt nach aussen in die Gesellschaft als dauerhafte Informationsquelle. Sie wirkt aber auch nach innen zur Identifikation und Stärkung jedes Einzelnen wie auch unserer Community im weiterhin notwendigen Einsatz für gleiche Rechte und gegen Diskriminierungen. Sie beweist unser Recht zum Kampf und sie zeigt uns gleichzeitig unser Recht auf Zukunft. Denn wer seine Geschichte nicht kennt, kann auch seine Zukunft nicht gestalten.