Newsletter 160

April 2023

Diese Ausgabe enthält die folgenden Themen:

  • Streifzüge durch die Website
  • Wider die Natur? - Liebe ist mächtiger als jedes Gesetz
  • Einladung zur Generalversammlung des Trägervereins

Streifzüge durch die Website

eos. In zukünftigen Kolumnen unserer Newsletter sollen unregelmässig wenig bis kaum beachtete und dennoch spannende Themen und Webkapitel im Fokus stehen. So möchten wir in lockerer Weise unsere Website von Anfang bis Ende durchstreifen. Natürlich kann es aus heutigen Erkenntnissen Ergänzungen geben, andere Sichtweisen, veränderte Zusammenhänge. Nichts ist fixiert, schon gar nicht, wenn es um menschliche Erfahrungen und Einsichten geht. Darum auch existiert die schweizerische Schwulengeschichte ungedruckt, digital, also jederzeit überall einsehbar und stets offen für Erweiterungen.

Diese Art von Kolumne können auch andere Autoren verfassen und weiterführen, sollte es zu personellen Veränderungen kommen.

Wider die Natur? - Liebe ist mächtiger als jedes Gesetz

eos. Sehr lange galt die Behauptung "gleichgeschlechtliche Liebe ist wider die Natur" als wäre sie ein Gesetz. Sie ist gefallen und unhaltbar, weil Liebe mächtiger ist als jede Behauptung und jedes Gesetz. Auch gleichgeschlechtliche Liebe ist Teil der Naturkraft Sexualität. Und die ist mehr als reine Fortpflanzung.

Wer der Frage nachgeht, woher die Ächtung gleichgeschlechtlicher Lebensformen kommt, wird stets auf die Hypothese stossen, sie sei widernatürlich. Darauf gründeten alle Methoden ihrer Ausgrenzung und Verfolgung bis heute: Als widernatürlich sei sie Sünde, sei sie kriminell, sei sie krankhaft. Die Verfolger waren in der geschichtlichen Reihenfolge ihrer Machtentfaltung: die Religionen, der Staat, die Ärzte und Psychiater. Gefallen jedoch ist diese Hypothese in umgekehrter Reihenfolge. 1990 erklärte die WHO (Weltgesundheitsorganisation der UNO), Homosexualität sei weder eine Geisteskrankheit noch moralisch verwerflich, drei Jahre später wurde sie generell von der Liste der Krankheiten gestrichen. 2022 führte die Schweiz als eines der letzten Länder Westeuropas die "Ehe für alle" ein, womit in unserem Land die wichtigste aber noch nicht vollständige rechtliche Gleichstellung auch der Homosexuellen realisiert wurde. Nur die Religionen bleiben weiterhin in ihren Traditionen und Dogmen gefangen. Sie wollen die Natur in ihrer unbestimmbaren, sich stets ändernden Fülle nicht anerkennen und können sie nicht als unabhängige Kraft hinnehmen.

Die letzten Einträge im Website-Kapitel "Wider die Natur?" sind nun siebzehn Jahre alt und enden mit der Feststellung, dass Forschungen zu Fragen wie "Sexualität und psychische Ausgeglichenheit", "Sexualität und soziales Zusammenleben" und "Homosexuelles Verhalten in vormenschlichen Urzeiten" gerade erst begonnen haben. Die Forschung wird noch manche bisherige Sichtweise verändern.

Zwei Ausstellungen

Auf die Schweiz bezogen gab es in jüngster Zeit zwei wichtige Ausstellungen zum Thema. Die eine wurde vom 1. November 2020 bis zum 22. Mai 2022 im Stapferhaus Lenzburg gezeigt und lud die Besucher unter dem Namen "Geschlecht. Jetzt entdecken" auf eine spielerische und doch wissenschaftlich klare Weise dazu ein, im bewusst weit gefassten Gebiet "Geschlecht" eigene Erfahrungen zu machen und sich neuen Erkenntnissen zu öffnen. Die Ausstellung übertraf die erwarteten Besucherzahlen trotz zeitweiser Schliessung wegen der Corona-Pandemie und wurde deswegen um sieben Monate verlängert. Die andere Ausstellung fand im Naturhistorischen Museum Bern statt und startete am 9. April 2021. Auch sie konnten die Veranstalter aus denselben Gründen um fast ein Jahr bis zum 19. März 2023 verlängern. Offenbar trafen diese beiden Ausstellungen einen Nerv sowohl des allgemeinen Interessens der Gesellschaft wie im Denken vieler Menschen von heute. Die Berner Ausstellung widmete sich ähnlichen Fragen wie jene in Lenzburg, doch war sie konkreter auf die sexuelle Vielfalt und die Natürlichkeit dieser Vielfalt angelegt. Im Newsletter Nr. 138 vom Juni 2021 hat Daniel Bruttin ausführlich darauf hingewiesen. Trotzdem kommen wir heute noch einmal darauf zurück. Dies im Zusammenhang mit der ersten Epoche unserer Schwulengeschichte: "Ächtung".

"Queer - Vielfalt ist unsere Natur", schon der Titel dieser "Sonderausstellung" im Naturhistorischen Museum Bern tönte wie ein Schlagwort. Das Werbeplakat zeigte eine Person, die sowohl Mann (im Gesicht) wie Frau (Bluse und Accessoires) und wieder Mann (Hose) sein könnte, begleitet von einer Tüpfelhyäne (von der später zu erfahren war, dass die Weibchen aggressiver sind als die Männchen und einen höheren Testosteron-Spiegel haben, also eigentlich Männchen sein müssten). Die Person des Werbeplakats begrüsste denn auch jede, jeden und alle dazwischenstehenden Besucher persönlich in einem Video, stellte sich vor und gab Einblick und Anleitung. Erst dann öffnete sich die Eingangstüre zur "aufregenden Expedition in die bunte Vielfalt von Natur und Gesellschaft".

Im Prospekt schaffte ein Intro Klarheit:

"Frau und Mann. Mann liebt Frau und umgekehrt. Jahrhunderte lang dachten und handelten wir in diesen Kategorien. Doch die alten Gewissheiten bröckeln. Queer steht für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Eine Vielfalt, die gesellschaftlich schon eine Realität ist, aber auch zu Kontroversen führt. Dabei kommt eine Frage immer wieder auf: Was ist natürlich?

Ein Blick in die Tierwelt und in die Biologie des Menschen zeigt in erster Linie eines: eine reichhaltige Fülle. Was Geschlecht und Sexualität angeht, spielt die Natur die gesamte Klaviatur. Es gibt Lebewesen mit einem, gleichzeitig zweien oder tausenden Geschlechtern. Und auch beim Menschen entdeckt die Wissenschaft immer neue geschlechtliche Zwischentöne. Das biologische Geschlecht ist nicht die eindeutige Angelegenheit, für die wir sie lange hielten. Und Geschlecht spielt sich auch in unserem Kopf ab, nicht nur an unserem Körper."

Mit dem Ticket bezog man ein "Expeditionsheft" für persönliche Einträge und konnte dann nach Video und Eintritt frei entscheiden, in welche der vier verschiedenen Zonen die eigene Reise gehen soll oder was man vielleicht später erst oder nochmals genauer ansehen wollte. Überall gab es Anregungen zum Nachdenken und sich auseinandersetzen mit Ungewohntem, dem man begegnete, das man an Stationen hörte oder auf Videos vorgeführt bekam. Das Expeditionsheft enthielt einen Grundriss der Zonen, wies auf fünf Stationen des Erfahrens der eigenen Person hin, enthielt einen Fragebogen "Erforsche dich selbst", nannte Anlaufstellen wie LOS, Pink Cross, asexuell.ch usw. und endete mit einem Glossar, das Begriffe erklärte, etwa "Trans", "Nicht binär" etc.

Die erste Zone lautete: "Vielfalt - In der Natur ist nichts normal". Verschlungene Wege führten zu Exponaten aus der Tierwelt in ihrer breiten Fülle von Geschlechtswechsel über Jungfernzeugung und Zwitter bis - bei Pilzarten - zu tausenden von Geschlechtern. Man erfuhr, dass homosexuelles Verhalten bei 1500 Tierarten erforscht worden sei, dass die Forschungen weitergehen und auch zur Erkenntnis führten, dass es in der Natur keine generell festgelegten Geschlechterrollen gebe. Dies wiederum werfe weitere Fragen auf: Welche Funktionen, welchen evolutionären Sinn erfüllt all das - oder muss es einen Sinn überhaupt geben?

Die zweite Zone hiess "Körperwelten - Unsere Körper, das schöne Durcheinander der Geschlechtsmerkmale". Darin ging es u.a. um die Geschlechtsidentität und das biologische Geschlecht, das sich in ein ganzes Spektrum zwischen typisch männlich und typisch weiblich auffächere. Es sollte gezeigt werden, dass geschlechtliche Vielfalt nicht als Problem, sondern als Bereicherung zu sehen sei.

Die dritte Zone trug die Überschrift "Kräfte - Aus gesellschaftlichem Wandel entsteht Energie, kreative und destruktive". Es ging um "gesellschaftliche Aspekte von Queerness und die kulturellen Auswirkungen unserer geschlechtlichen Vielfalt". Dabei wurde die Fülle queerer Kultur an diversen Beispielen unter dem Titel "Kreativer Motor" sichtbar gemacht. Als "destruktive Kräfte" stand die Realität von Missachtung und Unterdrückung des Queer-Seins mit Beispielen ebenso im Fokus wie die Diskriminierung und Gewalt gegen einzelne queere Menschen. Zudem gab es Stationen: Ein Sprach- und Identitäts-Quiz "Wer bin ich?" für mehrere Leute, die eine Gruppe bilden konnten, eine Station mit sieben spezifischen Biografien, die als Video aufgenommen an je einem Bildschirm präsentiert wurden, und an einem "Baum der Bekenntnisse" antworteten vier bekannte Persönlichkeiten auf Fragen: etwa der Museums-Kurator zu "Was ist natürlich?", ein Psychoanalytiker über "Kann man queer denken?" oder ein Theologe "Wie queer ist die Bibel?". Der Letztere versuchte, die bisher rein binäre Sicht auf die Bibeltexte zu verändern und sie divers, also viel weiter zu fassen und neu auszulegen. Dieser Ansatz entspricht auch jenem unseres ehemaligen Redaktors bei schwulengeschichte.ch, Josef Burri, wie er ihn in seinem Buch "Jakobs Fluch" entwickelt und systematisch darlegt*).

Die vierte Zone war auf der Galerie. Ihr Motto lautete: "Zukunft - So denken wir morgen über Geschlecht und Sexualität". In den Treppenstufen erschienen Jahrzahlen und Gesetzesänderungen von 1938 bis 2020. Man erstieg also den langen Weg zu gleichen Rechten für alle. Oben liessen sich die drei anderen Zonen überblicken. Zukünftiges war hier angedeutet. An Hürden in Laufbahnen klebten Fragen zum Sport: Gerechtes Messen der Leistungen von Transsexuellen? Ziele der Forschung: Männer, die Kinder gebären? Eine Station für persönliche Wünsche an die Gesellschaft von morgen: aufschreiben und an die Wand hängen! Den letzten Raum füllten Teenager, die an Monitoren über Vielfalt, Dasein/Queersein, über Befinden und Wünsche, Pläne und ihre Zukunft sprachen, diskutierten, sich austauschten, einander zuhörten.

Die Berner Ausstellung wirkte prägend. Sie wurde mit dem "Prix Expo" 2021 der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz und mit einem Diversity Award ausgezeichnet.

Das Zölibat - Wider die Natur?

Die wissenschaftlichen Forschungen der letzten Jahrzehnte erweiterten auch die Erkenntnis, dass gegen die Natur gerichtete Verhaltensweisen von der Natur verändert oder ausgemerzt werden. Dazu gibt es viele Beispiele, nicht nur im Kontext mit dem Klimawandel. Als eines davon können auch die psychischen Zusammenhänge gelten, die zu den sexuellen Missbrauchsfällen durch Geistliche der katholischen Kirche führten. Immer wieder - und nicht nur aus homosexuellen Kreisen - wurde betont, dass etwa der Zölibat und das Einschränken des natürlichen Sexualtriebs auf Kinderzeugung diese Skandale begünstigten. Unterdrückung der Sexualität wie sie in der vorchristlichen Antike gelebt wurde, das war von früh an eine Eigenschaft des Christentums. Und die jahrhundertealte katholische Tradition festigte diese Unterdrückung immer wieder.

Der Kirche waren diese Gefahren wohl bewusst. Ihr über Jahrzehnte andauerndes Verdecken der Missbräuche und die Praxis der Versetzung von Tätern an andere Orte kann auch als Schutz der "bedauernswert gefallenen Mitarbeiter" verstanden werden. Andererseits jedoch ist das Vertuschen - zusammen mit dem systematischen Verzögern der Aufarbeitung und der damit fälligen Wiedergutmachung - ein Beweis für das kirchliche Gefangensein in den eigenen Lehrmeinungen und für die Angst vor einem Einbruch des Systems.

6 Religionen und die Homosexualität

Richten wir noch einen Blick auf die Religionen im Allgemeinen und ihre Reaktionen gegenüber homosexuellen Betätigungen unter Menschen. Das Thema ist so aktuell wie eh und je. Von den sechs Weltreligionen sind es drei, die sich in ihrer Geschichte besonders ablehnend, ausgrenzend und sogar ausmerzend verhielten. In der Reihenfolge ihrer Entstehung sind dies Judentum, Christentum und Islam. Ihre gemeinsame Tradition postuliert, dass die Erschaffung der gesamten Natur durch einen allmächtigen Schöpfergott erfolgte und einem göttlichen Plan entspreche. Menschen als Gottes Geschöpfe haben das zu glauben und als Gläubige sollen und werden sie es verinnerlichen.

Den anderen drei Religionen, dem Animismus ("Naturreligionen"), Hinduismus und Buddhismus gilt die Natur als etwas Dynamisches, zeitlich Unbegrenztes, stets sich Wandelndes, demgegenüber der Mensch sich bestmöglich einfügt. Die Geschichte dieser drei Religionen kennt keine systematischen Verfolgungen und Hinrichtungen von Homosexuellen. Die wissenschaftlichen Forschungen und Erkenntnisse aller Zeiten haben das Weltbild dieser drei Religionen stets bestätigt bis hin zur Relativitäts- und Quantentheorie, wonach Vorgänge der Natur letztlich nicht fassbar und zufällig sind.

Nicht wider, sondern mit der Natur

Das bringt uns zu einer weiteren Frage. Der Mensch als das einzige uns bekannte denkende Wesen suchte immer Antworten auf das Naturgeschehen. Er erfand so Religionen, Philosophien, Naturwissenschaften, die er auch untereinander verknüpfte, um zu einem Gesamtbild zu gelangen, das ihn letztlich aus der Gebundenheit in sein zeitlich beschränktes Dasein hinaustragen würde. Erst dort wäre er frei. Auf diesem Weg geht es nicht mehr um wider die Natur oder mit ihr, sondern um eine geistige Entwicklung, die zur Freiheit von der Natur führt und zugleich das Frei-sein in der Natur ermöglicht. Der Mensch fand solche Wege sowohl innerhalb jeder der sechs Weltreligionen wie ausserhalb. Unter den je ihrer Tradition entsprechend als "Schamanen", Erleuchtete, Mystiker oder anders benannten Frauen, Männern oder Dazwischen-seienden sind viele Beispiele durch alle geschichtlichen Epochen bis in die Urzeit zurück zu finden. Sie sind auch dokumentiert worden und bilden eine eigene Art von "Tradition".

*) Josef Burri, "Jakobs Fluch, Die Folgen von Bibel- und Korantexten für Homosexuelle", rex verlag Luzern, 2022.

Einladung zur Generalversammlung des Trägervereins

hpw. Hinter schwulengeschichte.ch steht ein Trägerverein. Dessen Vorstand, derzeit bestehend aus drei Mitgliedern, sorgt dafür, dass die Website aus fast 2000 Seiten und über 900 Bildern läuft, der Newsletter pünktlich jeden Monat erscheint und die Rechnungen bezahlt werden. Darüberhinaus sichert er die technische Zuverlässigkeit und plant die Weiterentwicklung. Auch überlegt sich der Vorstand, wie dieses grosse Werk in die Zukunft geführt und weiterhin finanziert werden kann. Dies in ehrenamtlicher Arbeit.

Trotzdem müssen, wie erwähnt, Rechnungen bezahlt werden. Ganz einfach, nur damit die Website im jetzigen Zustand weiterhin für alle kostenlos zugänglich bleibt, sind minimal Aufwendungen von rund CHF 7000 jährlich nötig.

Wir stehen heute gut und stabil da. Erst zu Beginn dieses Jahres konnten wir das System hinter der Website rundum erneuern und auf einen aktuellen und zukunftsträchtigen Stand bringen, ohne dass die Besucher von schwulengeschichte.ch davon etwas gemerkt haben. Das war genau, wie es sein sollte.

Jeder Verein lebt mit und von seinen Mitgliedern. Jedes Jahr führt auch schwulengeschichte.ch eine Generalversammlung durch. Wir laden auch alle Newsletter-Abonnentinnen und -Abonnenten zu der diesjährigen Versammlung ein. Diejenigen, die noch nicht Mitglied sind, laden wir zusätzlich ein, jetzt dem Verein beizutreten und an der Generalversammlung mitzubestimmen. Der Mitgliederbeitrag beträgt CHF 100.

Die Generalversammlung findet am Dienstag, 16. Mai 2023 ab 18 Uhr im Rosa-Gutknecht-Zimmer im Kulturhaus Helferei, Kirchgasse 13, 8001 Zürich statt. Die Mitglieder bekommen rechtzeitig eine offizielle Einladung mit den entsprechenden Unterlagen.

Die Kontoangaben für die Mitgliedschaft finden Sie hier