Newsletter 188

August 2025

Diese Ausgabe enthält das folgende Thema:

  • Max Krieg: "Norm ist alles, was standardisiert ist - im Guten wie im Schlechten"

"Norm ist alles, was standardisiert ist - im Guten wie im Schlechten"

drf. Wer auf schwulengeschichte.ch unter "Suchen" seinen Namen eingibt, stellt sofort fest, dass Max Kriegs Aktivismus für die schwule Community in all den Jahren sehr vielseitig war. Nach seinem Rücktritt aus dem Vorstand von Pink Cross wurde er im April dieses Jahres an der Mitgliederversammlung verabschiedet. Viele Jahre hat er u.a. die Fachgruppe "Alter" mitgeprägt. Daniel Frey hat sich mit Max Krieg unterhalten. Rausgekommen ist dabei eine Art "Homestory", die ihn für einmal jenseits seines Aktivismus zeigt.

Auf die Welt gekommen ist Max Krieg im Februar 1946 im Spital in Zofingen. Aus familiären Gründen - und das war zu dieser Zeit aussergewöhnlich - führten seine Eltern vorerst eine Ehe auf Distanz, bis sie dann zwei Jahre nach seiner Geburt zusammenzogen.

Aufgewachsen ist Max zusammen mit seinem Bruder - dieser wurde 1951 geboren - auf einem Handwerks- und Bauernbetrieb im Dorf Kappel bei Olten - in einer reformierten Familie im damals streng katholischen Kanton Solothurn. Es war klar, in den Schulferien mussten die beiden Brüder entweder in der Werkstatt oder auf dem Feld mitarbeiten. Die Familie versorgte sich selbst - im Stall standen drei Kühe - erinnern könne er sich allerdings nur noch an zwei.

Die Kindheit hat er im Schatten des Kirchturmes der katholischen Kirche verbracht, erkannte am Geläut, was im Dorf passierte, etwa ob jemand gestorben ist. Als reformierte Familie gehörten sie im Dorf aber einer kleinen Minderheit an. Und obschon die Familie nicht sehr religiös gewesen sei, hätten sie trotzdem regelmässig die sonntäglichen Predigten besucht.

Aber besser erinnern als an die Predigten könne Max sich eigentlich an den Apfelbaum, der mitten im Garten stand. Solche feinen Gravensteiner habe er in seinem ganzen Leben nie mehr gegessen.

Max hat mir während zwei intensiver und offener Gespräche viel über seine Kindheit, seine Jugend, seine Ausbildung, seinen Beruf, seine Mutter, seinen Vater und über seinen Aktivismus für die queere Community erzählt. Mir ist es fast unmöglich, seine Lebensgeschichte so zusammenzufassen, dass ich ihr gerecht werde.

In die Schule sei er ganz gerne gegangen. Zuerst in Kappel in die Primarschule, dann in die Bezirksschule in Hägendorf und dann noch in die Verkehrsschule in Olten.

Und erinnern kann Max sich noch an das Konfirmationslager. Da habe der Pfarrer versucht die Konfirmand*innen "aufzuklären" - und habe aber schlussendlich eigentlich eher vor Sexualität gewarnt. Daran könne er sich aber wohl vor allem darum erinnern, weil ihn die Worte des Pfarrers erregt hätten.

Die berufliche Karriere begann Max 1964 mit einer "Stationslehre" bei den SBB. Er lernte da u.a. am Schalter Billette zu verkaufen, Züge abzufertigen und Stückgut - auch Geissen - zu verschicken. Damals habe es bei den Bahnhöfen noch Viehgatter gegeben.

Nach der Lehre arbeitete Max an verschiedensten Bahnhöfen in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz. Aus einem als kurz geplanter Sprachaufenthalt im Tessin wurden dann 19 Jahre. Und der Eisenbahn blieb Max Krieg bis zur Pensionierung mit 65 treu.

"Ich kann nur schwul sein!"

Irgendwann zwischen 16 und 19 hat sich Max Krieg am Bahnhofskiosk in Luzern das Buch "Die Sexualität des Mannes" gekauft. Und da habe sogar auch etwas über Homosexualität dringestanden. Seine Sexualität habe aber damals vor allem aus masturbieren bestanden. Vorerst habe er sich halt auf der "heterosexuellen Ebene bemüht" - was ja die Norm hätte sein sollen. Aber dann in Paris! Während Max und sein damals "bester Freund" nebeneinander im Hotelzimmer lagen - da sei noch nichts passiert - ausser, dass er vor Sehnsucht nach dem Körper nebenan "fast gestorben" sei. Erst dann auf der Rückreise - als sie mit Autostopp nicht mehr weiterkamen und irgendwo unterwegs in einer kleinen Bar auf dem Boden schlafen durften, sei es dann endlich dazugekommen! Allerdings wurde man sich "danach" rasch einig, nie mehr darüber zu sprechen. Das sei für ihn allerdings ein regelrechter "Schlag ins Gesicht" gewesen. Für Max war von da an klar: "Ich kann nur schwul sein!".

Max schmunzelte, als er fünf "LAP" - Lebensabschnittspartner - aufzählte. Die erste Beziehung habe zwei Jahre gedauert, die zweite Beziehung zehn Jahre. Und die dritte Liaison nur gerade vier oder fünf Monate, diese sei aber umso intensiver gewesen. Die vierte Beziehung habe zwei Jahre gedauert. Und die aktuelle Beziehung halte noch an - und zwar seit 1990 - also seit 35 Jahren.

Sein Coming-out gegenüber den Eltern hatte Max Krieg zu Beginn der ersten längeren Beziehung Anfang der 1970er. Und eigentlich hätten Vater und Mutter sein Schwulsein "gut" aufgenommen. Allerdings habe sein Vater zum Schluss des Gesprächs noch gewarnt, er solle aber jetzt dann "nicht noch kriminell" werden. Damals habe er dies nicht begriffen - sondern erst etwas später als seine Partner jünger waren als 20 und er über 20. Und gemäss dem damaligen Sexualstrafrecht waren diese Beziehungen eben strafbar. Ob sein Vater allerdings damals tatsächlich ausgerechnet an das Sexualstrafrecht gedacht habe, wisse er nicht!

Zu dieser Zeit hat er mit dem damaligen KREIS Kontakt aufgenommen und begonnen, sich zu interessieren und sich zu aktivieren. Der Club 68 und daraus die SOH, die Schweizerische Organisation der Homophilen, entstanden. Max schrieb erste Artikel für die Zeitschrift hey. Damals bildeten sich auch die lokalen "Homosexuellen Arbeitsgruppen" HAZ, HABS und HAB.

Mutter Irma

Max Kriegs Mutter Irma verstand, dass es nicht gut ist, wenn lesbische Töchter und schwule Söhne von ihren Familien nicht angenommen oder gar ausgestossen werden - darüber habe sie sich regelmässig Sorgen gemacht. Max hat dann seiner Mutter einen Zeitungsartikel über die amerikanische Organisation "PFLAG" - Parents, Families and Friends of Lesbians and Gays - zum Lesen gegeben. Dies brachte sie auf die Idee, Leserbriefe an die Zeitschriften "Leben und Glauben" und "Schweizer Familie" zu schreiben. Daraus entstand die erste Elternkontaktstelle und schlussendlich FELS, Freunde, Eltern von Lesben und Schwulen.

Tessin

1972 hat Max Krieg im Tessin die "Associazione Amici della Musica Jazz" mitgegründet. Dieser verdeckte Name war nötig, da damals im Tessin niemand einen klar bezeichneten Treff für Homosexuelle geduldet hätte. 1983 wurde der "Jazz-Club" geschlossen. Daraufhin half Max mit, Promozione Relazioni Omo-sociali zu errichten.

Da es eigentlich nur Max möglich gewesen ist in der Öffentlichkeit präsent zu sein, habe vor allem er der Gruppe ein Gesicht gegeben. Das blieb bei seinem Arbeitgeber nicht unbemerkt. Einer seiner Vorgesetzten sammelte alles, was über Max und sein Engagement in den Zeitungen erschien, in seiner Personalakte. Bemerkt habe Max es deshalb, weil er auf Bewerbungen innerhalb der SBB - etwa als Lehrlingsausbildner - ständig Absagen erhalten habe. Er habe dann mit Unterstützung des Rechtsschutzes des Personalverbandes Einsicht in sein Dossier verlangt. Nebst den gesammelten Presseartikeln war u.a. auch irgendwo notiert, dass Max gerne enge Kleidung trage. Heute ist dieses Personaldossier bei SBB Historic archiviert, damit es als Zeitzeugnis der Nachwelt erhalten bleibt.

Als Aids die schwule Community immer mehr verunsicherte, hat Max 1985 die Aids-Hilfe Tessin (Aiuto-Aids Ticino) mitgegründet. Und da das Risiko einer Beschlagnahmung durch den italienischen Zoll damals gross war, schmuggelte er regelmässig Kondome nach Mailand.

Rückkehr in die Deutschschweiz

Nach der Rückkehr in die deutschsprachige Schweiz war Max Krieg 1997 bei der Gründung von PinkRail als einerseits SBB-Freizeitorganisation, aber auch als Bindeglied zur Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV wesentlich mitbeteiligt.

2013 wurde Max Krieg in den Vorstand der HAB gewählt - in den Vorstand der "Homosexuellen Aktionsgruppe Bern" - wie er den Verein eigentlich viel lieber bezeichnet hätte. Offiziell war HAB die Abkürzung für Homosexuelle Arbeitsgruppen. Im März 2020 ernannte die Mitgliederversammlung der HAB ihn zum Ehrenmitglied.

Von 2014 bis 2025 war Max im Vorstand von Pink Cross Koordinator der Fachgruppe "Alter". In dieser Zeit entstand die im Mai 2016 veröffentlichte, wichtige Studie mit dem Titel "Sensibilisierung stationärer Alters- und Pflegeeinrichtungen im Umgang mit LGBTI- sowie HIV+/aidskranken-Klient*innen", die in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Angewandte Wissenschaften durchgeführt wurde.

Bis 2017 engagierte Max sich für die LGBT-Kommission des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Bei der Organisation der "Pride Ouest" 2017 mit dem Umzug durch die Stadt Bern und dem Fest auf dem Bundesplatz war er ebenfalls massgeblich beteiligt. Als Max mir mit Stolz von dieser Pride erzählte, habe ich ihn gefragt, ob er nicht mal eine Rede auf dem Bundesplatz halten möchte. Er antworte darauf mit einem zögerlichen "Nein" - und ich hatte aber das Gefühl, dass er diese Rede eigentlich ganz gerne "mal" halten würde. 

Bis zum Tod seiner Mutter 2002 sprach Max nicht über seinen positiven HIV-Status. In der Zwischenzeit macht er kein Geheimnis mehr daraus und macht so HIV sichtbar. Für diesen Mut verdient er ein ganz grosses Dankeschön. Denn es ist so wichtig, dass gerade auch ältere HIV-positive Menschen sichtbar sind - schlussendlich als Langzeitüberlebende auch in Pflegeeinrichtungen.

Max ist für mich persönlich - im positiven Sinn - der Inbegriff des "alten, weisen schwulen Mannes". Wenn sich bei Diskussionen zu einem bestimmten Thema die meisten am Tisch einig waren, da hatte Max noch einen wichtigen Einwand, an den niemand gedacht hatte. Er hatte - hat - immer den Durchblick. Auf die Interviewfrage, was eigentlich "Norm" bedeute, hat er geantwortet: "Norm ist alles, was standardisiert ist - im Guten wie im Schlechten". Die Medaille hat zwei Seiten, viele Themen haben aber sogar mehrere Seiten. Standards oder eben Normen sind für Max stets zu eng gedacht. Und das ist doch gut so!