Verfolgung der Homosexuellen im christlichen Abendland

Was ist geschehen zwischen dem alten Ägypten und 1482?

Die Menschen hatten eine andere Vorstellung übernommen. Die eines monotheistischen Gottes und damit eine anders definierte Ordnung der sichtbaren und unsichtbaren Welt, beruhend auf einer von diesem Gott gewollten, vollbrachten und beherrschten Schöpfung. Alle Erscheinungen, die nicht in diese Ordnung passten, wurden negativ gesehen, "ethisch korrekt" ausgegrenzt, aus dem Bewusstsein verdrängt. Es gab sie nicht. Das traf unter anderem Menschen, die gleichgeschlechtliche Sexualkontakte vollzogen. Ein besonders dunkles Kapitel der Geschichte, auch der Kirchengeschichte. Denn es traf Menschen, die sich nicht wehren konnten, weil sie als existierende Menschengruppe gar nicht wahrgenommen werden durften.

Ein Beispiel, zitiert nach "Sexus. Monographien aus dem Institut für Sexualwissenschaft, Berlin", darin die Publikation an das Reichsjustizministerium von 1925 zum Amtlichen Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches, "Unzucht zwischen Männern"1

"Christentum und Homosexualität. Der Rechtsgrund, welchen die Kirche des Mittelalters für die Bestrafung homosexueller Handlungen angab, dürfte schwerlich heute noch aufrecht zu erhalten sein. Ludwig der Fromme (Ludwig I, 814-840, Nachfolger Karls des Grossen) befahl in einem Kapitulare, die Urninge5 lebendig zu verbrennen, nachdem das sechste Pariser Konzil festgestellt habe, dass durch sie Hungersnot und Pestilenz entstanden seien (cfr. Acta concilii Paris, sexti, Hb.3, cap.2), und der hervorragende Jurist Carpzovius nennt noch 1709 als Motive der Bestrafung in Anlehnung an diese Anschauung folgende sechs Plagen, die sie [die Urninge, Red.] verursachen: Erdbeben, Hungersnot, Pest, Sarazenen, Überschwemmungen sowie sehr dicke und gefrässige Feldmäuse."2

Die "Sodomie" der kanonischen (kirchlichen) Lehre, womit gleichgeschlechtliche Akte bezeichnet wurden, bezog sich auf diese geächtete und daher verbotene Handlung als einer "Sünde" (siehe Zeittafel "um 349-407 Johannes Chrysostomos"). Ein Täter/eine Täterin wurde demnach als Sünder und Ketzer gebrandmarkt und als solcher bestraft. Dabei sah man die Strafe als Läuterung, als "Sühne". Die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen bei lebendigem Leib hatte also die Bedeutung einer "gnadenvollen" Art der Bestrafung, weil sie als teilweise "vorbezogenes Fegefeuer" (Purgatorium) betrachtet und der Allgemeinheit so erklärt und gepredigt wurde. Die Todesängste der Betroffenen und ihre Schmerzensschreie galten als Zeichen der Sühne.

Die Vorstellung eines "Homosexuellen", eines derartig existierenden Menschen oder eines auf diese Weise Veranlagten gab es nicht. Der "Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies", so Michel Foucault (1926-1984) in "Sexualität und Wahrheit"3.

Es hat noch immer keinerlei Bewältigung dieser ganzen Vergangenheit stattgefunden. Nicht seitens der dafür verantwortlichen Organisationen, etwa der Kirchen, und vor allem nicht von noch heute so denkenden und handelnden Personen innerhalb dieser oder anderer Organisationen. Bewältigung der Vergangenheit heisst Hinabgehen zu den Quellen und systematisches Blosslegen dieser Geschichte von Ausgrenzung und Verfolgung bis auf ihr Entstehen und bis zu den Ursachen, die dazu führten.

Das hat bis heute einzig Karlheinz Deschner in seinen Werken getan, vor allem mit der zehnbändigen Kriminalgeschichte des Christentums. Doch er fokussierte sich nicht explizit auf die Verfolgungsgeschichte homosexuell liebender Menschen. Das müssen wir selber tun.

Auch die unmenschlichen Folgen unseres Geächtet- und Ausgegrenztwerdens sind noch nie gesamthaft aufgearbeitet und öffentlich dargelegt worden. Weil das bis heute nicht geschehen ist, müssen wir Homosexuelle den Finger darauf legen. Wir haben - als Opfer der Ächtung über einen Zeitraum von mehr als 1500 Jahren - nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht dazu.4

Es gilt einen Denk- und Bewusstwerdungsprozess anzuregen. Unter uns selbst, vor allem aber bei den anderen. Anzufangen wohl bei jenen, die einen Sinn haben für Gerechtigkeit, Wahrheit und Transparenz auch im Bereich der christlichen Religion und ihrer Geschichte.

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Ernst Ostertag, August 2004

Weiterführende Links intern

Zeittafel (um 349-407 Johannes Chrysostomos)

Quellenverweise
1

Sexus. Monographien aus dem Institut für Sexualwissenschaft, Berlin, darin die Publikation an das Reichsjustizministerium von 1925 zum Amtlichen Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches, "Unzucht zwischen Männern", Punkt 6, Seite 22.

2

Carpzovii practica novi rerum prim. 1709 II g. 76 §5.

3

Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Band 1, "Der Wille zum Wissen", Seite 58.

4

Seit 2022 gibt es ein Buch, das sich dieser Aufarbeitung widmet: Josef Burri, Jakobs Fluch, Die Folgen von Bibel- und Korantexten für Homosexuelle, rex verlag, Luzern

 

Anmerkungen
5

Homosexuelle, ein Begriff, den Karl Maria Kertbeny 1869 einführte; zuvor gab es verschiedene Bezeichnungen, eine davon war Urning, plural Urninge