Der Uranier vor der Kirche
Erster Teil
Wirz ortete zwei Arten homosexueller Christen:
"Die schwächeren unter ihnen, die sich mit ihrer Natur nicht abzufinden vermögen, laufen Jahre, Jahrzehnte als Heuchler auf dem Lebensmarkte herum. Eine falsche Etikette deckt sie vielleicht vor den Menschen, während eine unverständige Kirchenlehre sie zu einem unablässigen, qualvollen Büsserleben nötigt und sie nimmer zur Freudigkeit eines mit Gott versöhnten Herzens durchdringen lässt. Woher soll da die Kraft noch kommen zum Kampfe mit Fleisch und Blut, und sind sie einmal gefallen, tilgt oft Selbstmord die Schande, die eine ungerechte Welt und eine unvernünftige Kirche auf sie geladen. Die anderen, die Stärkeren, von der Natürlichkeit ihrer homosexuellen Triebe durchdrungen, kehrten früher oder später der Kirche den Rücken, denn sie mögen nicht heucheln, die Bibel lassen sie ungelesen, denn sie mögen nicht immer ihr eigenes Verdammungsurteil vernehmen, ihr Gebet verstummt und damit steht der Puls ihres geistlichen Lebens still. Schuld daran sind [...] die verständnislosen Kirchen, denn sie fühlen Mitleid mit Heiden, sorgen für entlassene Sträflinge, nehmen sich gefallener Frauenzimmer hilfreich an, nur für den Uranier haben sie kein Herz."
Die Aufgabe einer Lösung der Homosexuellen-Frage - und das Vorausgehen in dieser Sache - ordnete Wirz den protestantischen Kirchen zu, denn nach protestantischer Interpretation seien Kirche und Bibel nicht identisch:
"Ein eigentliches Verdammungsurteil [...] enthalte weder die lutherische noch die reformierte Kirchenlehre. Keiner der Reformatoren hätte sich speziell mit dieser Frage beschäftigt. [...]
In Übereinstimmung mit Heinrich Hössli stellt Wirz ausserdem fest, dass die abendländische Kirche zum gleichen Zeitpunkt die Homosexuellen zu verdammen begonnen habe, als sie auch das Unheil der Hexenprozesse heraufbeschwor. Nach seiner Auffassung müssten die Uranier einer solchen Kirche den Scheidebrief geben und ihr entgegenhalten: Du sollst den Namen Gottes, deines Herrn, nicht missbrauchen, denn der Herr wird dich nicht ungestraft lassen, wenn du seinen Namen leichtfertig zum Richten in den Mund nimmst."
Dieses Bibelwort
"veranlasste Wirz auch zu folgender klaren Stellungnahme: Vor allem mache ich darauf aufmerksam, was nicht bloss ungebildete Laien, sondern auch Theologen immer wieder übersehen, dass nämlich ein Moralkodex und ein bürgerlicher Strafkodex nicht dasselbe sind. Wir können über einen Satz der christlichen Ethik vollkommen einig sein, aber ob sich derselbe zu einem Artikel des Strafgesetzes eigne, ist damit nicht entschieden." (Zitate nach Beat Frischknecht)
Ernst Ostertag, Juni 2006