Obmann
Wissenschaftlich-humanitäres Komitee (WhK)
1905 berichtete Wirz von "seiner eigenen 37-jährigen Erfahrung" mit der Homosexualität. Zur damit angegebenen Zeit, 1868, begann er in Basel mit dem Theologiestudium.
"Ob die 'Erfahrung' nur theoretischer oder auch praktischer Art war, lässt er selbstredend offen. Selbst ein Magnus Hirschfeld hatte sich ja zeitlebens nie zur eigenen Veranlagung bekannt."
Auf seinen diversen Reisen während und nach dem Studium beschäftigte er sich bereits in eigentlich wissenschaftlicher Art mit der käuflichen Liebe: Nachdem er in Hamburg erstmals auf die männliche Prostitution gestossen war, ging er nun dem Phänomen in anderen Städten nach, nämlich "in Berlin, München, Stuttgart, Wien, Budapest, England, Frankreich, Italien, Nordafrika und der Türkei", also an jedem Ort, den er besuchte. Er bat zwei Stadtmissionare um ihre Erfahrungen über männliche Prostituierte und deren Kundschaft, "doch wussten auch diese nichts Besseres, als ihn auf die 'Sünde Sodoms' zu verweisen."
Das brachte ihn dazu, eigene Nachforschungen anzustellen. Er führte nun
"direkte Gespräche mit Strichjungen und traf auch mit deren Freiern [...] zusammen. Er zählte sie 'nach Hunderten' und alle hätten darin übereingestimmt, dass 'sie von Natur so zu sein behaupteten'. Auch bei sämtlichen Fällen [...] ohne finanziellen Hintergrund kam Wirz zum selben Schluss:
'Dass die Homosexualität nicht etwas Erworbenes, nichts Angelerntes, sondern eine Naturanlage ist, das beweist mir besser als alle Theorien das Bekenntnis ernster würdiger Männer, deren Sittenstrenge und Leistungsfähigkeit in ihrem Berufe niemand in Zweifel zu ziehen wagte und welche zugestehen, dass ihr Liebestrieb ausnahmslos auf Personen desselben Geschlechts gehen, dass dieser Trieb bei ihnen, so lange sie sich erinnern, immer derselbe gewesen und dass sie ihn nicht los zu werden vermögen'."
Durch den Skandal um den "Kanonenkönig" Alfred Krupp 1902 kam Wirz
" '... endlich mit dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee von Berlin in Berührung und seitdem weiss ich, dass ein Problem, von dem ich nur aus der Praxis kannte, auch theoretisch von der zunächst interessierten medizinischen Wissenschaft bereits als gelöst bezeichnet werden darf.' "
"Wirz' Mitgliedschaft zeichnete sich vor allem durch zwei bemerkenswerte Verhaltensweisen aus: Einerseits versteckte er sich - im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit seiner WhK Mitstreiter - nie hinter einem Pseudonym [...]. So wurde 'Prof. Wirz - Mailand' schon bald zu den 'bewährtesten und ältesten' Mitgliedern gezählt. Andererseits waren die Geldbeträge, die er der Organisation zukommen liess, jeweils aussergewöhnlich hoch. [...] Seit 1904 gab es Bestrebungen, eine Art kollektives Führungsgremium an der Spitze des WhK zu bilden. Es bekam die Bezeichnung 'Obmännerkommission' und bestand zunächst aus sieben Männern. Zu ihnen gehörte von Anfang an auch Caspar Wirz. Er war und blieb einziger Schweizer Mitarbeiter des Komitees [...] und Obmann mit Wohnsitz ausserhalb Deutschlands." (Zitate nach Beat Frischknecht)
Ernst Ostertag, Juni 2006