Theologischer Liberalismus

Ein Vertreter des theologischen Liberalismus?

Im später nachgelieferten Kapitel "Caspar Wirz als Vertreter des theologischen Liberalismus?" (Frühjahr 2006) kommt Beat Frischknecht zum Schluss, diese Frage sei zu verneinen, weil es Wirz nicht um evangelisch theologische Richtungen und Schulen ging, sondern um seine persönliche Gotteskindschaft als freies homosexuelles Individuum. Als solches wäre er ohnehin von jeder damaligen theologischen "Fakultät" abgelehnt worden, was ihm bestimmt voll bewusst war.

Nachweislich hatte er

"während seines Berliner Studiums die Fächer 'Evangelische Glaubenslehre' und 'Über die Beweise des Daseins Gottes' beim evangelisch-lutherischen Theologen August Detlev Christian Twesten besucht. Twesten war ein klassischer Vertreter der Vermittlungstheologie. Diese lieferte zu jener Zeit sozusagen den nötigen Kitt, der die evangelische Theologie und Kirche als Gesamtheit noch zusammenhielt und sie sah sich als 'wahre Vermittlerin' zwischen modernem wissenschaftlichem Bewusstsein und der Idee des Christentums.

Umfassende Bibelkritik lag Caspar Wirz fern. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass er sich als strenggläubiger Homosexueller genötigt sah, seine natürliche Veranlagung mit der Heiligen Schrift irgendwie in Einklang zu bringen. [...]"

Seinem diesbezüglichen

"inneren Zwang verdanken wir diese wohl erste fundierte theologische Auseinandersetzung zum Thema Christentum und Homosexualität. Dabei stiess er bis zum Kern der Problematik vor und durchschaute"

die fatale, rein machtpolitische Vorgehensweise. Denn diese Vorgehensweise liess die Theologen 

"völlig verschiedene, aus mehreren Jahrhunderten stammende, von verschiedenen Autoren verfasste, in divergierenden Sprachen niedergelegte Textstellen [...] zusammenfassen und daraus einen scheinbaren Zusammenhang [...] konstruieren, damit auf dieser Grundlage"

gewisse - auch sexuelle - Verhaltensweisen als sündhaft gebrandmarkt und die Übertreter, zu denen Wirz sich auch zählen musste, eingeschüchtert, unterjocht oder gar als Ketzer ausgemerzt werden konnten.

Wirz' Reaktion auf diese machtpolitischen Konstrukte war genaues Studium der "Schrift", wie er die Bibel nannte. Und das brachte ihn zur klaren Einsicht,

"wie auffallend beiläufig die homosexuelle Thematik in der Bibel Erwähnung findet. Die entsprechenden Stellen interpretierte er nicht wörtlich und damit fundamentalistisch, sondern historisch und damit relativierend. Als eines der wichtigsten Fazite stellte er klar, dass das Thema der homosexuellen Liebe, in der zwei Männer oder zwei Frauen mit ihrem ganzen Wesen seelisch, leiblich und geistig aufeinander ausgerichtet sind, in der Heiligen Schrift schlicht gar nicht vorkommt."

Somit fällt jede theologische Verurteilung gelebter homosexueller Liebe als nicht aus der Bibel begründbar dahin und kann ignoriert werden. Das war wohl Caspar Wirz' Überzeugung als Homosexueller und Christ auch in jenen Jahren, in denen er im Vatikan seiner Forschertätigkeit nachging. Diese Haltung mochte die heiter-befreite Weise seines Daseins als gelassener Christenmensch bewirkt haben. Er trug keinen Widerspruch zu seiner Veranlagung mehr in sich. Und damit ist er nicht nur Pionier, sondern ein bis heute leuchtendes Vorbild.

Nach oben

Ernst Ostertag, Juni 2006