1893-1918

Deutsches Kaiserreich

Der Tätigkeitsbereich

1895, im To­des­jahr von Karl Heinrich Ulrichs, fand in London der Prozess gegen Oscar Wilde statt. Die Ver­ur­tei­lung dieses Dichters hatte Si­gnal­wir­kung. Sie wurde für den deutsch-jü­di­schen Arzt Dr. Magnus Hirsch­feld Anlass, sich öf­fent­lich für An­er­ken­nung und Ent­kri­mi­na­li­sie­rung ho­mo­se­xu­el­ler Menschen ein­zu­set­zen.

1896 schrieb er unter dem Pseud­onym Th. Ramien die Bro­schü­re

Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts?

Sie erschien im Verlag Max Spohr, Leipzig. Darin bediente sich Hirsch­feld aller we­sent­li­chen Ar­gu­men­te, die bereits Ulrichs und Hössli for­mu­liert und ver­öf­fent­licht hatten und fügte neu die ge­sell­schafts­po­li­tisch un­er­wünsch­te Er­press­bar­keit hinzu, die ihren Nähr­bo­den in der Kri­mi­na­li­sie­rung finde.

Max Spohr hatte bereits 1893 in seinem Verlag in Leipzig als weltweit erster Verleger Schrif­ten über Ho­mo­se­xua­li­tät ver­öf­fent­licht.

Um an das mutige Werk dieses Mannes zu erinnern, vergibt der deutsche Verein schwuler Füh­rungs­kräf­te, "Völklinger Kreis" (VK), seit 2001 den Max-Spohr-Preis an Un­ter­neh­men, die in Di­ver­si­ty führend sind, also in der ge­ziel­ten Ak­zep­tanz, För­de­rung und Nutzung per­sön­li­cher Ei­gen­hei­ten ihrer Mit­ar­bei­ter wie Ge­schlecht, Alter, Haut­far­be, Religion oder sexuelle Ori­en­tie­rung.

Am 15. Mai 1897 gründete Hirsch­feld das "Wis­sen­schaft­lich-hu­ma­ni­tä­re Komitee" in Berlin, zusammen mit Max Spohr, dem Schrift­stel­ler und Ober­leut­nant a.D. Max von Bülow und dem Juristen und Ei­sen­bahn­be­am­ten Eduard Oberg. Es war dies die weltweit erste Or­ga­ni­sa­ti­on zur Ab­schaf­fung der Kri­mi­na­li­sie­rung gleich­ge­schlecht­li­cher Hand­lun­gen. In mehreren Pe­ti­tio­nen an den Reichs­tag (1897, 1900, 1904, 1907, 1922 und 1926) wurde für die Ab­schaf­fung des § 175 geworben und gekämpft. Bei ge­mein­sa­mer Arbeit an Ent­wür­fen zu Straf­ge­setz­re­for­men ent­stan­den auch Neu­fas­sun­gen dieses Pa­ra­gra­phen, die dann zur Dis­kus­si­on in po­li­ti­schen Gremien und im Reichs­tag vor­ge­schla­gen wurden (1921/​22, 1924, 1926 und 1929 bis 1932). Doch alle Vor­stös­se - auch teil­wei­se weit ge­die­he­ne - blieben letzt­lich er­folg­los.

Se­xu­al­wis­sen­schaf­ter waren immer auch So­zi­al­re­for­mer und, in der Mehrzahl Ärzte, ver­stan­den sich stets als Forscher auf vielen Gebieten, indem sie me­di­zi­ni­sche, psy­cho­lo­gi­sche, psy­cho­ana­ly­ti­sche, so­zio­lo­gi­sche und ju­ris­ti­sche Fra­ge­stel­lun­gen und Aspekte mit ein­be­zo­gen. Darin waren sie modern und zu­kunft­wei­send - bis die Nazis mit ihrer primitiv-ein­för­mi­gen Sicht­wei­se alles zer­schlu­gen. Von diesem Kahl­schlag erholte sich die Se­xu­al­wis­sen­schaft als an­er­kann­te Dis­zi­plin in ihrem deut­schen Ur­sprungs­land nur sehr mühsam.

Von 1899 bis 1923 erschien als erste se­xu­al­wis­sen­schaft­li­che Zeit­schrift und wich­tigs­te Platt­form der Ho­mo­se­xu­el­len­de­bat­te das "Jahrbuch für sexuelle Zwi­schen­stu­fen", her­aus­ge­ge­ben durch das Wis­sen­schaft­lich-hu­ma­ni­tä­re Komitee.

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Ernst Ostertag, März 2004

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Völklinger Kreis