Späte Würdigung
Hössli fand keinen Nachfolger. Seine grundlegenden Gedanken starben mit ihm aus, zumindest in der Schweiz, wenn man vom mutigen Jacob Rudolf Forster absieht. Sie wurden dafür von deutschen Pionieren aufgenommen und so weiterentwickelt, wie er es sich gewünscht hatte.
1903 veröffentlichte der deutsche Forscher Ferdinand Karsch-Haack (1853-1936) in Berlin unter dem Titel "Der Putzmacher von Glarus" ein Lebensbild Heinrich Hösslis, nachdem er in der Schweiz Nachforschungen angestellt, alles ihm Berichtete oder in Archiven Gefundene gesammelt und noch vorhandene Schriften, auch Hösslis beide Bände, aufgekauft hatte1. Karsch-Haack gehörte zum Umfeld des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) von Dr. Magnus Hirschfeld und war einer der produktivsten Autoren der vom WhK herausgegebenen "Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen".
Zitate aus dem 112-seitigen Werk, Aussprüche von Zeitgenossen über Hössli:
"In seiner Erscheinung durchaus männlich ohne das geringste Weibische, zeigte er ein Benehmen wie eine höfliche Frau."
"Stets freundlich und zuvorkommend gegen jedermann, besonders liebenswürdig gegen seine ausschliesslich weiblichen Kunden [...]."
"In Glarus war er Mitglied der Kasinogesellschaft und, gern gesehen überall, galt er als Mann von Lebensart. Sein Geist war von ausserordentlicher Lebhaftigkeit."
"Er besass eine nicht geringe satirische Anlage und konnte von göttlicher Grobheit sein."
"Heinrich gehörte der evangelischen Kirche an, war aber vollkommen freidenkerisch, ohne dabei im geringsten Atheist zu sein. Er spottete nur über die bigotte Geistlichkeit und 'Pfaffenwelt' und deren oft eng begrenzten Horizont; und wenn er die Geistlichkeit zum Teil hasste, so war [...] ein Grund der, dass manche Geistliche seiner Zeit sich hervortaten, damit der weitere Druck seines Buches 'EROS' verboten werde."
"Vermöge seiner hochentwickelten Intelligenz zeigte er sich auf keinem Gebiete verlegen; er konnte sich mit Künstlern und Gelehrten [...] unterhalten, obwohl er Schule nicht genossen hatte."
"Noch mit 76 Jahren verlangt er von einer Buchhandlung in Zürich nicht weniger als 37 wissenschaftliche und dichterische Werke, zwei Drittel davon wollte er jedenfalls behalten, wahrscheinlich alle. Seine erstaunliche Kenntnis der Literatur war seinen Freunden wohlbekannt."
Karsch-Haack gab aber nicht nur ein Lebensbild, sondern trug ausgewählte Abschnitte aus beiden Hössli-Bänden zusammen und schaffte so eine klare, geordnete Fassung für Leser, die kaum oder nie die kompliziert geschriebenen Originale zur Hand nehmen würden. Es ist heute als wohl beste Übersicht und Einführung in Hösslis Werk wieder zugänglich im dreibändigen Nachdruck "Materialienband Eros usw.".2
Im Kreis-Heft vom Dezember 1948 erschienen auf Seite 8 einige Sätze Hösslis "aus dem hinterlassenen ungedruckten Manuskript zum 3. Bande seines 'Eros' ":
"Ich sitze im Reisewagen, mir gegenüber eine männliche Schönheit - tausend andere hätten sie nicht für eine solche genommen - oder vielmehr - es hätte sich in den tausend anderen für diesen Menschen nichts bewegt [...] ich hatte schon grosse Reisen gemacht; aber so gerollt und so gewogt - solchen Himmel, solche Erde, solche Seligkeit - und ich wusste eigentlich nicht, ob sie in mir oder im Postwagen oder rings um denselben her sei - ich war trunken und, o du guter Gott, hätte ich's ewig bleiben können - es war der Eros!"
"Ich bin in der Kirche, mir zur Rechten eine verklärte Menschengestalt, die auch meine ganze Seele verklärt und mit glühender Andacht, mit dem Himmel selbst erfüllt. Der Tempel erbebt, er verschwindet, und warum dachte ich: zu den Füssen dieses göttlichen Jünglings wäre es selig zu sterben? - es war der ewige Eros!"
Ernst Ostertag, Januar 2004, August 2023
Weiterführende Links intern
Quellenverweise
- 1
Rolf Thalmann setzte Ausschnitte dieses Lebensbildes an den Anfang seines Buches (S. 11-34), in: Rolf Thalmann (Hg), "Keine Liebe ist an sich Tugend oder Laster, Heinrich Hössli (1784-1864) und sein Kampf für die Männerliebe", Chronos Verlag Zürich, 2014.
- 2
Materialienband Eros usw., Bibliothek rosa Winkel, Berlin 1996.