Einmaligkeit
Durch die wachsende Bedrohung änderten sich auch die Bedürfnisse und Ansichten des Publikums. Man war bereit, Klassiker und ihre bedeutungsvollen Themen, ihre Sprache und Dramatik anzunehmen und erkannte die brennende Aktualität im heutigen Zeitgeschehen. Theater wurde Ansporn, geistige Erneuerung, Stärkung, Trost und Vorbild zugleich. Teo Otto sagte später und traf damit den Kern:
"Jeder an diesem Theater spürte das Einmalige seiner Situation. Dies Theater war die höchst komplizierte Antwort einzelner auf das Toben der Vernichtung. Es war die Abwehr der Seele gegen die Vermessenheit der Zeit. Das Künstlerische resultierte aus dem Wollen, psychisch und physisch zu überleben, und dem unermüdlichen Bestreben, die Schwere der Situation zu meistern."1
Die Tyrannei und Grausamkeit in Shakespeares Tragödien und Königsdramen, die oft bittere Komik dreister Habsucht, blinden Hochmuts, verschlagener Rechtfertigung und dumpfer Feigheit in seinen Volksszenen, die Weisheit der Narren und Ausgegrenzten, vieles wirkte treffend und ging unter die Haut. Schillers "Don Carlos" wurde zum eigenen Hoffen und Wollen, "Wilhelm Tell" zum Fanal, zum Jetzt erst recht!
In der Spielzeit 1934/35 wurde Shakespeares "Richard III" wieder aufgenommen und "Professor Mannheim" von Friedrich Wolf kam neu in den Spielplan. Dieses Stück hatte Rassenhass und Judenverfolgung zum Thema und wuchs mit mehr als 40 Vorstellungen zur unmissverständlichen Demonstration. Die gehässige Negativpropaganda des deutschen Generalkonsulats, das ein gefordertes Verbot nicht durchsetzen konnte, und die wilde Agitation der Nationalen Front heizten die Aussagekraft dieses Stückes und die Besucherzahlen erst richtig an.
"Sie [die Nationale Front] verursachte einen Tumult nach dem anderen, bewaffnete Polizisten mussten das Pfauentheater bewachen und Rieser, der zahlreiche Drohbriefe erhielt, verteilte, selbst bewaffnet, an die Bühnenarbeiter und Kassiererinnen Gummiknüppel. In einem Artikel bekannte sich das Schauspielhaus nun eindeutig zum politischen Engagement: [...]
'Die Wirklichkeit schlägt zu. Wenn die Getroffenen aufheulen, nun, man kann nichts anderes von ihnen erwarten.' "2
Nach dem "Anschluss" Österreichs verliess Rieser 1938 die Schweiz und ging mit Frau und Tochter nach Amerika. Nun drohte Schliessung und Verkauf des Theaters.
Niemand zweifelte später am enormen und vor nichts zurückschreckenden Einsatz Riesers, um extrem gefährdeten Emigranten an seinem Theater Aufenthalt und Arbeit zu verschaffen und schliesslich das berühmte Ensemble aufzubauen. So äusserte sich Angelika Arndts:
"Riesers Verdienst um die Rettung vieler Schauspieler wurde zu spät erkannt. Ohne ihn wär' der Langhoff irgendwo verreckt, wenn nicht im Börgermoor, dann anderswo."3
Im KZ Börgermoor, in der Nähe von Papenburg, waren "Politische" und "Homosexuelle" inhaftiert. Viele kamen dort um. Der autobiografische Bericht "Die Moorsoldaten" von Wolfgang Langhoff schilderte 1935 den Nazi-Terror. Das Buch fand weltweit Beachtung4. Wolfgang Langhoff lebte 1933 bis 1945 in Zürich und arbeitete am Schauspielhaus.
Ernst Ostertag, Oktober 2004
Quellenverweise
- 1
Beat Schläpfer: Die Geschichte des Schauspielhauses, 1978
- 2
Beat Schläpfer: Die Geschichte des Schauspielhauses, 1978, Seite 40
- 3
Peter Exinger: WOZ
- 4
Wolfgang Langhoff, Die Moorsoldaten, 1935, Neuauflagen ab 1995, Verlag Neuer Weg