1946-1950

Privatpfleger

Waclaw Nijinsky

Nach Ende der Ausbildung zum Psychiatriepfleger zog Fredi Brauchli noch im Oktober 1945 zu Karl Meier / Rolf. Er bewarb sich an der psychiatrischen Klinik Burghölzli und arbeitete dort für etwa ein halbes Jahr. Nun begann er auch im KREIS aktiv zu werden, indem er beim Versand der Hefte und Leihbücher half. In der Ausgabe 12/1945 setzte Rolf ihrer Zweisamkeit ein deutliches und offenes Zeichen: Sein Weihnachtsgedicht auf der ersten Seite widmete er "Fredy".

In einem Brief an den nach London exilierten deutsch-jüdischen Freund und Kampfgefährten Kurt Hiller schrieb Rolf am 23. Februar 1945:

"Ich selbst lebe auch seit drei Jahren mit einem lieben Menschen, der für mich durch seine Einfachheit und Ruhe ein prächtiger Gegenpol ist zu meiner Art. Er ist Krankenpfleger, war auch mit der 3. Ärzte-Mission in Russland. Vielleicht kann er Dir einmal erzählen, wenn wir Dich hier in der Schweiz sehen?!"

Kurt Hiller schrieb regelmässig Beiträge für das Menschenrecht und den Kreis. (Den Hinweis auf diesen Brief gab Beat Frischknecht.)

Die Gattin unterstellt Fredi ein Verhältnis mit dem Tanzgott

Anfang 1946 wechselte Fredi an die Privatklinik Brunner in Küsnacht (ZH). Dort lernte er den geistig umnachteten und von einem Schlag halbseitig gelähmten Tänzer Waclaw Nijinsky (1890-1950) kennen2. Nijinskys Frau bat Fredi, doch mit nach England zu kommen, wo sie Freunde habe, und wo er sich dauernd als Privatpfleger um ihren Gatten kümmern sollte.

Das tat Fredi etwas später, reiste allein und ohne ein Wort Englisch zu können und blieb fast drei Jahre bis kurz vor dem Tod des Künstlers in der sorgfältig abgeschirmten Villa im Londoner Vorort Virginia Water. Nur selten gewährte ihm Nijinskys geizige Frau einen freien Tag, um einmal in die Stadt hineinzufahren und die Metropole etwas kennenzulernen. Auch für seinen Pflegerlohn musste er immer wieder kämpfen.

Fredi sah sich schamlos ausgenutzt, besonders, nachdem ihm die Frau ein Verhältnis mit dem Todkranken unterschieben wollte. Er verliess die Villa und reiste zurück. Auf den 1. Januar 1950 konnte er eine Stelle an der Psychiatrischen Klinik Hasenbühl in Liestal (BL) antreten. Einige Wochen danach starb Waclaw Nijinsky.

In Ausgabe 5/1950 (Seiten 7-9) publizierte der Kreis einen Nachruf auf Nijinsky, verfasst von Max Terpis1:

"[...] Der entscheidende Schritt in die grosse Welt gelang dem Siebzehnjährigen, als das Auge [...] von Sergej Diaghilew auf ihn fiel. [...] Er nahm ihn in sein Gefolge auf [...] und ihm dienten Strawinsky und Picasso. Selbst der alte Rodin war beglückt, ihn zu modellieren. [...] Es war die leitende Hand des Mentors Diaghilew, die das Genie dem weltweiten Ruhm zuführte" [...] und zu höchster Leistung brachte "in den tragenden Rollen etwa im 'Nachmittag eines Faun', dem 'Geist der Rose', in 'Petruschka', 'Feuervogel', 'Carneval', 'Scheherazade' und 'Sacre du Printemps'. [...] Nijinsky war ein Instrument, das jeden schöpferischen Gedanken und Willen vollendet wiedergab. [...]

Mitten auf der Bahn des Ruhmes aber stand plötzlich ein Wegweiser. [...] Nijinsky, dieser Ikarus, musste sich entscheiden, ob er den Höhenflug unter der Führung seines Dädalus weiterführen [...] oder ob er den Lockungen der Nymphe folgen solle. [...] Er folgte [...] der Frau und verlor damit den Freund und seine Welt. [...] Da warf Apollon, der strenge, einen Schleier über seinen Schützling, der ihn der Welt entzog. Er löschte die Fackel. Sanft und ohne es ihn selber merken zu lassen, nahm er die ihm verliehenen Gaben zurück. [...] Und nachdem schon vor mehr als dreissig Jahren sein Geist entflohen ist, ist nunmehr auch die letzte Saite des wundervollen Instruments [...] gesprungen."

(In 12/1961 brachte Karl Meier / Rolf die Besprechung eines neuen Buches über Nijinsky.)

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Ernst Ostertag, Februar 2006, ergänzt: Mai 2010

Weiterführende Links intern

Kurt Hiller, Vier deutsche Autoren

Quellenverweise
1

Der Kreis: Nr. 5/1950, Seiten 7 bis 9

Anmerkungen
2

Mit dem jungen Nijinsky war das 1907 gegründete "Ballet Russe" von Sergej Diaghilew weltberühmt geworden.