Grundsätzliches: Ghetto und Repression
Im Lauf des Jahres 1958 begann die Repression gegen Homosexuelle, das heisst, sie wurde deutlich spürbar.
Ab 1960 verschärfte sich die Situation massiv. Nun ging die Polizei mit Razzien vor. Das tat sie unregelmässig, aber plötzlich und heftig, acht Jahre lang.
Bevor diese Zeit der Razzien mit ihren Folgen zur Darstellung kommt, soll hier und vor allem in den folgenden Kapiteln die Lage analysiert und Grundsätzliches hervorgehoben werden.
Dies geschah bereits zusammengefasst und stark verkürzt im einleitenden Kapitel "Jahre der Repression".
Die dort angetönten Voraussetzungen, Ereignisse und Zusammenhänge erscheinen hier teilweise erneut, aber ausführlicher und in anderem Umfeld oder aus anderem Blickwinkel gesehen.
Gewichtet wird der KREIS als geschütztes Ghetto, das gut funktionierte. Aus dieser Tatsache erklärt sich die krampfhaft beschworene Absonderung. Sie machte blind, man sah die Realität draussen nicht, man lebte in einer Illusion. Und erwachte unsanft. Die Repression war bereits harte Wirklichkeit.
Repression wird meist propagiert und durchgeführt von traditionell Denkenden und will im Namen von Ordnung und Moral "unordentliches", der Norm - oder "Schöpfungsordnung" - nicht entsprechendes Tun einschränken, etwa das Fühlen und Handeln homosexueller Menschen. Repression ist gefährlich, weil dabei meist allgemeine Bürgerrechte beschnitten werden. Repression braucht dazu massive Propaganda gegen "Sündenböcke". Es entsteht Unsicherheit, Angst und ein Klima des Misstrauens, der Verhetzung, in dem auch Hasstaten möglich werden. Ein Teufelskreis. Mehr dazu im einleitenden Kapitel "Repression".
Noch stärker gewichtet wird dort am Beispiel Zürich eine andere Illusion: Dass Razzien an Treffpunkten von Homosexuellen ein taugliches Mittel zur Eindämmung des "Milieus", der Jugendgefährdung und der Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten seien. Daraus entstand nämlich eine kaum noch zu kontrollierende Eigendynamik: Razzien wurden zur Routine. Dagegen kann man sich schützen. Man weicht ihnen aus. Und dies wiederum beantwortete die Polizei mit neuen, ausgedehnteren Einsätzen nicht nur in Parks, sondern selbst in Wäldern am Stadtrand. Abonnenten des Kreis berichteten ihren Kameraden davon. Jeder hörte mit. Man organisierte sich neu und fand oder schaffte andernorts "sichere" Treffpunkte. Diese konnten auch in Privathäusern oder im Ausland sein.
Mit der Zeit verloren alle repressiven Mittel die ihnen zugedachte Wirkung und am Ende gab es nur noch Opfer:
- die Registrierten, darunter auch unbescholtene Menschen,
- die organisierten Homosexuellen und ihr KREIS,
- die Polizei, ihre Beamten im Einsatz, jene auf den Posten und die Vorgesetzten bis hinauf zum Stadtrat.
Letztlich aber war die Allgemeinheit das Opfer, ein Opfer mutwillig geschürter Hetze.
Damit ist den Ereignissen und Schilderungen in den folgenden Kapiteln weit vorausgegriffen. Doch es gehört zum Thema Grundsätzliches, dass über den eigentlich irrationalen Einbruch einer Repressionszeit nachgedacht und die reinen Fakten und Gründe ihres Entstehens gesucht und aufgezeichnet werden in der Hoffnung, sie könnten zu Einsichten führen, wie man künftige ähnliche Gefahren erkennt und Strategien ihrer Eindämmung entwickelt.
Ein Beispiel dafür ist das Kapitel Umgang mit Syphilis und die zwanzig Jahre später ergriffenen Massnahmen der Zusammenarbeit bei Prävention und Hilfe, als Aids zur wachsenden Bedrohung für alle wurde.
Ernst Ostertag, April 2012