Das Ghetto KREIS

Seit der Ein­füh­rung des StGB (1942) und schon zuvor mit der Be­grün­dung des neuen Gesetzes im Bereich Ho­mo­se­xua­li­tät (Stän­de­rat 1931) war der Weg ins Ghetto vor­ge­zeich­net. Er hätte nicht be­schrit­ten werden müssen. Mit kämp­fe­ri­schen Männern an der Spitze der kleinen Bewegung wäre viel­leicht mehr in en­ga­gier­ter Öffent­lich­keits­ar­beit getan und erreicht worden. Dazu hätte als Vor­aus­set­zung erst einmal das all­ge­mein prak­ti­zier­te Tabu, das Schwei­gen über se­xu­el­les Tun und sexuelle Details, auf­ge­weicht werden müssen. Dies aber konnte eine der se­xu­el­len Norm nicht ent­spre­chen­de Min­der­heit, die man zudem als solche nicht wahr­neh­men wollte, un­mög­lich von sich aus leisten.

Der Schau­spie­ler Karl Meier / Rolf war Künstler, weder Re­vo­lu­tio­när noch Po­li­ti­ker. Der Un­ter­neh­mer und Bankier Eugen Laubacher / Charles Welti war als Homoerot ein absolut Ver­bor­ge­ner und der Literat Rudolf Jung / Rudolf Burkhardt war Flücht­ling. Die po­li­tisch, fi­nan­zi­ell oder im kul­tu­rel­len Leben Ein­fluss­rei­chen unter den Abon­nen­ten blieben stets bedeckt im Hin­ter­grund.

Das Ghetto hatte seine of­fen­sicht­li­che Funktion und seine un­be­strit­te­nen Vorteile. Aus dem Ghetto konnten diskrete Ver­bin­dun­gen zu Wis­sen­schaf­tern und anderen wich­ti­gen Per­sön­lich­kei­ten pro­blem­los her­ge­stellt werden. In der Öffent­lich­keit war ihre Meinung ge­wich­tig und gültig. Ein freies, seiner Ver­an­la­gung gemässes Sich-Fühlen- und Leben-Können hingegen, es war nur im Ghetto für jeden Abon­nen­ten in ga­ran­tier­ter Si­cher­heit möglich. Nur dort durfte jeder ohne Maske sein, nur dort war man für we­nigs­tens einen Abend voll­wer­ti­ger, ganzer Mensch.

Ernst Ostertag, Oktober 2005