1958
Zeitzeuge: Ernst Ostertag
... Überfall im frühen Morgen
Am 10. Juli 1958, früh morgens um fünf Uhr, läuteten zwei Männer an meiner Wohnungstüre, riefen "Aufmachen! Polizei!", stürmten herein und untersuchten alles, auch unter den Betten, in den Schränken. Dann stellten sie sich vor als Beamte der Zürcher Sittenpolizei. Es seien anonyme Schreiben eingegangen, ich sei homosexuell und verkehre mit minderjährigen Strichjungen. Sie fanden niemanden. Darauf besah sich einer die Korrespondenz auf dem Schreibtisch. Er hörte damit erst auf, als ich das Vorweisen eines Durchsuchungsbefehls verlangte. Nun setzten sie einen Rapport auf, den ich unterschrieb, weil darin festgehalten war, dass die Visite erfolglos verlaufen sei. Zugleich wurde ich auf den späten Nachmittag zum Erscheinen auf die Hauptwache, Sittenpolizei, bestellt.
Tagsüber gingen mir die verschiedensten Dinge durch den Kopf, auch Gefühle von Angst waren da. Könnte es um die berufliche Existenz gehen oder eine mögliche Kündigung der Wohnung? Ich besprach mich mit meinem Freund Röbi; wir waren ja seit gut anderthalb Jahren ein Paar. Es stiegen weitere Fragen auf: Wer waren die Verfasser der "anonymen Schreiben"? Gab es sie überhaupt? Gab es noch andere von uns, die in gleicher Weise von Organen der Sitte überfallen worden sind? Ist das eine gezielte Aktion?
Auf der Hauptwache wurde ich von Herrn Steffen empfangen, dem jedes Kreis-Heft zur Durchsicht vorgelegt werden musste. Ich hütete mich, von meiner Mitarbeit dort zu erzählen. In freundlichem, fast kollegialem Gespräch (als Lehrer war ich ja Beamter wie er) entschuldigte Steffen die frühmorgendliche Störung, aber sie müssten eben bestimmten Hinweisen nachgehen, besonders in der momentanen Lage. Und mit Bemerkungen wie etwa, er kenne viele, die auch homosexuell und sehr wertvolle Menschen seien, brachte er es dahin, dass ich meine Veranlagung, welche ja nach schweizerischem Recht nicht strafbar sei, eingestand. Das wurde in einem Protokoll vermerkt und abgelegt als
"streng vertraulich und nur bei der Sittenpolizei garantiert verschlossen gehalten".
Zudem war darin festgehalten, dass ich mich in keiner Weise rechtswidrig verhalten habe. Denn beides, Verkehr mit Strichern (männliche Prostitution) und mit Minderjährigen (unter 20) war nach damaligem Gesetz strafbar.
Ernst Ostertag, September 2005