68er Revolten

Zürcher Globus-Krawalle: ein Fanal für unsere eigene Befreiung

Die beginnenden Unruhen unter Jugendlichen in weiten Teilen Europas waren ein Thema für den politisch besonders interessierten Carl Zibung. Im Septemberheft1 liess er einen Artikel von Herbert von Borch aus der Süddeutschen Zeitung nachdrucken, in welchem - ein Jahr vor dem Stonewall-Aufstand - über die Bewegungen in den USA berichtet wurde. Er setzte den Titel "Unsere amerikanischen Freunde im Kampf um Gleichberechtigung".

Und bereits im Mai brachte er eine längere Reportage mit Kommentaren zu "Europas Jugend im Aufbruch…".2 Es ging um sehr viel: Um das von den USA zunehmend abhängige Europa der Nachkriegsjahre und der Gegenwart, um die Zeiten von Blockade und Kaltem Krieg, die Aufteilung in zwei Machtblöcke weltweit und quer durch Europa. Es ging aber ebenso um veraltete wie verhärtete Formen des Denkens, der Gesellschaft mit ihren Strukturen, des Gehemmt- und Verklemmtseins in Fragen von Erziehung und Sexualität, der überfälligen Reformen, auch im Hochschulbereich. Es ging um Befreiung von Normen und Verhaltensweisen der älteren kriegs- und vorkriegs-geprägten Generationen, ums Sprengen eines Korsetts, das einer neu und anders denkenden Jungend keine Chancen gab. Einleitend schrieb Zibung:

"club68 will versuchen, die Hintergründe der Studentenrevolten ein wenig zu beleuchten. Nicht, weil sie Probleme der homophilen Lebenssituation im besonderen berühren. Aber club68 will sich nicht von der Umwelt abkapseln. Und Probleme, die alle angehen, berühren auch uns. [...]

Sicher ist: Die europäische Situation muss überdacht werden. Die heutige Jugend hat morgen nicht nur die Verantwortung zu übernehmen. Sie muss auch die Konsequenzen tragen für das, was heute getan wird. Und für das, was heute unterlassen wird.

Unsere Generation - nicht die kommende - muss den europäischen Kontinent aufbauen. Dass die Jugend, angesichts der Ohnmacht der herrschenden Schicht, mitreden will, ist verständlich. Dass sie dabei Lärm machen muss, um gehört zu werden, ist nicht ihre Schuld. Die heutige Jugend ist, im Gegensatz zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen, weniger eine vaterlandslose als eine vaterlose Gesellschaft: Von den Vätern im Stich gelassen."

Kurze Zeit danach besetzten Jugendliche in Zürich das leerstehende Globus-Provisorium an der Bahnhofbrücke (heute eine Coop-Filiale) und wollten darin ein "Autonomes Zentrum" für ihre Aktivitäten errichten. Als Schüler des Evangelischen Lehrerseminars Unterstrass war ich (Ernst Ostertag) 1947 einem Verein beigetreten, der ein autonomes Jugend- und Freizeitzentrum beim Drahtschmidli an der Limmat aufbauen wollte und es dort - als Provisorium - zu betreiben begonnen hatte. In den verstrichenen 21 Jahren brachten es die Behörden nie fertig, dieses Zentrum, wie schon damals versprochen, zu renovieren und auszubauen. Jetzt hatte eine Gruppe von neuartig ungeduldigen und gesellschaftskritischen Jugendlichen die Besetzung der ehemaligen Globus-Räumlichkeiten begonnen. Ihr Ansinnen verhinderte jedoch die Polizei im Auftrag der Behörden, indem sie ihrerseits das Gebäude besetzte.

Am 29. Juni 1968 war ein Volksfest beim Bürkliplatz am See im Gange, ein "Tessiner-Fest", an dem wir (Röbi Rapp und Ernst Ostertag) teilnahmen. Am selben Abend eskalierte die Situation um die Bahnhofbrücke. Die Jugendlichen hatten sich vor dem Globus-Provisorium versammelt und wollten über das Limmatquai zur Sechseläutenwiese ziehen, um sich dort ein Altersheim aus Brettern zu bauen, wenn ihnen schon ein Jugendzentrum verweigert werde. Die Polizei griff aber mit Wasserwerfern ein und so kam es auf der Bahnhofbrücke zur Strassenschlacht, die wir, dorthin geeilt, aus nächster Nähe beobachten wollten.

Die sogenannten Globus-Krawalle hatten begonnen. Mit Transparenten, die bei Demos mitgetragen wurden, wiesen die Jugendlichen unmissverständlich auf ihre Anliegen hin und auf die Kluft, die sich zwischen ihnen und der Gesellschaft - für sie feindselig repräsentiert durch die Polizei -, aufgetan hatte: "Polizei-Knüppel gegen Meinungsaustausch" - "Polizei-Gewalt trifft Jung und Alt!"

Für uns war klar: Jetzt gibt es Luft! Die Kräfte der Polizei waren gebunden. Razzien in Parks und anderswo würden kaum mehr oben auf der Liste ihrer Einsätze stehen. Wir feierten das als eine - und zwar unsere - Form von Befreiung, als ersten Schritt, aus dem wir nun dezidiert und unaufhaltsam eine ganze Bewegung von endlos vielen Schritten machen wollten. Die rebellierende Jugend wirkte ansteckend; sie wurde uns zum Fanal.

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Ernst Ostertag, März 2006

Quellenverweise
1

club68, Nr. 9/1968, Seite 3

2

club68, Nr. 5/1968, Seite 13 ff