1990
Abklemmen, beenden
Der neue Polizeidirektor
Eine Antwort von ganz oben, vom Polizeidirektor des Kantons Bern, Regierungsrat Peter Widmer (FDP), gerichtet an Hans Ineichen (HAB, Homosexuelle Arbeitsgruppen Bern) - mit Kopien an den Ursus Club Bern und die SOH (Schweizerische Organisation der Homophilen) -, war mit dem Datum des 19. Dezember 1990 versehen und führte den Betreff "Homosexuellen-Kartei". Regierungsrat Widmer hatte sein Amt vor wenigen Monaten angetreten, weshalb er wohl die Affäre möglichst rasch und ohne Gesichtsverlust weder für Polizei noch Beamte des Kantons beenden und begraben wollte:
"[...] Am 30. August 1990 richteten Sie an die kantonale Polizeidirektion das Begehren, es sei Ihnen eine anonymisierte Version der Homosexuellen-Kartei für einige Zeit zur Verfügung zu stellen, um diese wissenschaftlich [...] auswerten zu können. [...]
Bekanntlich erfuhr die Beantwortung Ihrer Eingabe wegen eines Missverständnisses zwischen dem Polizeikommando und dem Direktionssekretariat leider eine Verzögerung. Im Nachgang zu einer Unterredung vom 15. November 1990 auf dem Direktionssekretariat stellten Sie mit Datum vom 28. November 1990 erneut das Gesuch, die fragliche Kartei wissenschaftlich auswerten zu können; Sie wünschen die Zurverfügungstellung einer anonymisierten Version. [...]
Es ist vereinbart, einzelne Karten als Muster sowie entsprechende Dienstbefehle dem Staatsarchiv als Dokumentation zur Verfügung zu stellen. Die Kartei wurde [...] für kriminalpolizeiliche Zwecke angelegt. Die Rechte der Betroffenen gemäss Datenschutzgesetz waren und sind bis zur Aufhebung respektive teilweisen Vernichtung vollumfänglich gewahrt."
Bis zur Aufhebung vor rund 8 Monaten seien die Rechte der Betroffenen gewahrt gewesen, ist eine unbewiesene und zweifelhafte bis falsche Aussage angesichts der Tatsache, dass ein Datenschutzgesetz im Kanton Bern erst Anfang 1986 in Kraft trat, fast neun Jahre nach Einführung der Meldekartenpraxis, und der weiteren Tatsache, dass der kantonale Datenschutzbeauftragte bis zum 26. April 1990 nichts von den Meldekarten wusste und sie dann sofort als unakzeptabel bezeichnete. Sie war wohl eine rein politische Behauptung des Chefs der Kantonspolizei, damit diese sich um eine formelle, öffentliche Entschuldigung herumdrücken konnte.
Regierungsrat Widmer fuhr in seinem Schreiben fort und lehnte auch jede Gesamteinsichtsnahme ab, wohl, weil es dadurch mehr Licht in die für ihn und die Kantonspolizei peinliche Sache und somit Druck im Hinblick auf eine fällige Entschuldigung gegeben hätte:
"Einer Bernischen Organisation, die sicherlich nicht für sich in Anspruch nehmen kann, alle Homosexuellen zu vertreten, oder gar einer gesamtschweizerischen Organisation die Kartei zur Verfügung zu stellen, lehnen wir aber ab. Abgesehen davon, dass kein Rechtsanspruch dafür besteht, Privaten ein derartiges kriminalpolizeiliches Arbeitsmittel zugänglich zu machen, ist nicht ersichtlich, wie und wofür die Auswertung erfolgen sollte. [...]"
Der Hinweis auf eine mögliche Beschwerde gegen diesen Entscheid fehlte zwar nicht, aber offensichtlich waren die Organisationen nun einerseits doch zermürbt und müde geworden und andererseits auch zur Einsicht gekommen, dass ein Rekurs ans kantonale Verwaltungsgericht sehr viel Zeit und Kraft erfordern und schliesslich kaum zu einem Erfolg führen würde. Man musste sich mit dem Erreichten abfinden, zufriedengeben konnte man sich natürlich nicht.
Mit einem Brief vom 22. September 1990, hatte die HACH (Dachorganisation der Homosexuellen Arbeitsgruppen Schweiz) zuvor schweizweit reagiert:1
"Die HACH sahen sich [...] veranlasst, nochmals an alle Polizeikommandanten und Datenschutzbeauftragten der Kantone zu gelangen und eine Offenlegung allfälliger Karteien zu verlangen. Die Aktion brachte keine neuen Karteien zum Vorschein, [...]."
Also war wenigstens mediales Verständnis und etwas Sympathie für die fichierten Schwulen gewonnen. Denn kurz nach dem eidgenössischen Fichenskandal mit tausenden von ausgeschnüffelten Bürgern wegen angeblicher Ostkontakte hatte man weit herum genug vom "Schnüffelstaat" und allen seinen Fichen. Man durfte recht sicher sein, dass Homo-Karteien und -Fichen abgeschafft und vernichtet waren.
Ernst Ostertag, Juni 2007
Quellenverweise
- 1
Beat Gerber, Lila ist die Farbe des Regenbogens, Schwestern, die Farbe der Befreiung ist rot. Die Homosexuellen Arbeitsgruppen der Schweiz (HACH) von 1974-1995, Seite 109