1974-1993
Provokation - Konsens
Utopie und Realität
Diskussionen und Gegensätzlichkeiten, geprägt von einzelnen Mitgliedern und ihrer HA-Gruppe, brachen bis in die 90er-Jahre immer wieder zum Teil heftig auf. Sie bewirkten, dass die HACH nie zur Ruhe kam oder gar einschlief, während das Einschlafen für die SOH (Schweizerische Organisation der Homophilen) in ihren letzten Jahren eine konstante Gefahr bedeutete. Gerber beschrieb diese inneren Reibungen in seinem Kapitel Ideologie und endete mit einer Zusammenfassung:1
"[...] Es zeigt sich [...], dass die Ideologie [...] der neuen Schwulenbewegung in den 70er-Jahren stark von den Ideen der Neuen Linken beeinflusst war. [...] Abgesehen von vereinzelten Stimmen scheint sich die Mehrheit der HA-Gruppenmitglieder mit der linken Positionierung identifiziert zu haben.
Die Ideologie der Kapitalismuskritik zielte auf die Utopie einer Welt ab, in der lesbische und schwule Menschen nicht mehr benachteiligt werden würden. Diese Utopie blieb aber konturlos. Ein eigentliches Programm zur Erreichung der angestrebten Überwindung der realen Situation findet sich in den Akten nicht. Vorausgesetzt wurde jedoch die Arbeit an sich selbst. Die Gesellschaft würde sich nur ändern lassen, wenn die Homosexuellen sich selbst akzeptierten und sich aus den gesellschaftlichen Zwängen, der 'Zwangsheterosexualität', befreiten. Die Emanzipation der Gesellschaft musste also über die eigene Emanzipation stattfinden.
Ab 1980 zeigte die Suche nach einer gemeinsamen politischen Plattform, dass die ursprüngliche Ideologie nicht mehr für alle Gruppierungen genügend integrierend wirkte. Zudem wurde - nicht zuletzt auch an den Demonstrationen - offensichtlich, dass die Mehrheit der Schwulen sich durch die linken Parolen nicht mobilisieren liess. [...] Gefordert war ein Grundsatzprogramm, welches die wesentlichen Ziele der Bewegung festhalten sollte, zugleich aber auch konkretere Schritte und längerfristige Forderungen enthalten musste.
Ab 1987 finden sich in den Diskussionen über ein Grundsatzprogramm praktisch keine Spuren der früheren ideologischen Positionen mehr. Zunehmend wird auf ein pragmatisches, zielgerichtetes Vorgehen abgestützt. [...] Es wurde erkannt, dass die provokativen Aktionen, mit welchen die HACH bis Mitte der 80er-Jahre Aufsehen erregen wollten, nicht mehr die erhofften Wirkungen zeigten und sich damit die Mehrzahl der Homosexuellen auch nicht identifizieren konnte. Diese Mängel sollten mit der im 'Bericht 90' an erster Stelle erwähnten Strukturreform der HACH behoben werden."
Diese Reform führte in der Folge zur Idee eines professionellen Schwulensekretariats, welches alle Organisationen vereinen und gesamtschweizerisch effizient und gezielter wirken sollte, als es einer Gruppierung aus Freiwilligen wie die HACH möglich war. Am 5. Juni 1993 erhielt diese Vision ihr reales Gesicht: Mit der Gründung von Pink Cross.
Ernst Ostertag, November 2006
Quellenverweise
- 1
Beat Gerber, Lila ist die Farbe des Regenbogens, Schwestern, die Farbe der Befreiung ist rot. Die Homosexuellen Arbeitsgruppen der Schweiz (HACH) von 1974-1995, "8.2 Ideologie", Seite 53 ff und Ende Seiten 66/67