1973

Schwierigkeiten

Post, Rektorat, Polizei

Sofort nach der Gründung bliesen den Studenten kalte Winde ins Gesicht und wollten ihrem frisch geborenen Kind den Garaus machen. Das HAZinfo vom August 1973 berichtete:1

"Die HASG stiess [...] auf Schwierigkeiten, die die Gruppen in Zürich, Basel und Bern nicht kannten. Dies mag wohl im kleinstädtischen geschlossenen Charakter von St. Gallen zu suchen sein. Bei der Eröffnung des Postfaches musste zunächst das 'sittliche Empfinden' der PTT in St. Gallen überwunden werden. Erst durch die Entscheidung der übergeordneten Kreispostdirektion erhielt die Gruppe ein Postfach [...]."

Dann wurden die St.Galler selber zitiert:

"Mit dem Antrag an die HSG [Hochschule St. Gallen] auf Genehmigung der Statuten (Genehmigung als HSG-Arbeitsgruppe) stiessen wir beim Rektor [...] erwartungsgemäss auf Schwierigkeiten. Die Entscheidung des an den HSG-Senat weitergeleiteten Antrags steht noch aus. In einem Gespräch verlangte der Rektor eine Namensänderung [...], dass das Wort 'homosexuell' nicht erscheint. Vom Rektor wurde das mit fadenscheinigen Argumenten wie 'Rücksichtnahme auf den geplanten Hochschulausbau' und 'Schwierigkeiten wegen des kleinkarierten Denkens in St. Gallen' begründet. Die Namensänderung lehnten wir strikte ab.

Erfolglos blieb bisher die Lokalsuche. Vom Studentenseelsorger erhielten wir einen ablehnenden Bescheid. [...]

[...] Die grössten Überraschungen erlebten wir bisher mit der Polizei [...]. Durch den Hinweis im Prisma oder durch Zeitungsmeldung erfuhr sie unseren Tagungsort im Restaurant 'Alt Sankt Gallen'. Sie versuchte [...] beim Wirt Informationen über uns zu erhalten. An uns persönlich wandte sie sich nicht. Also fragten wir die Polizei [das geschah am 22. Mai 1973] von uns aus an. Zwei Wochen später erhielten wir einen mit Vorurteilen beladenen Brief. Wir beantworteten ihn und erklärten unsere Bereitschaft zu einem Gespräch."

Diese "mit Vorurteilen beladene" Antwort des Inspektors D.E. (anonymisiert) auf die HASG-Anfrage datierte vom 4. Juni 1973 und lautete:

"Sehr geehrte Herren

[...] Es ist unter anderem Aufgabe der Polizei, sich im Zusammenhang mit der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung über kriminalsoziologisch bedeutsame Gruppen zu informieren. Zu diesen Gruppen gehören an sich auch solche, deren Ursprung Perversionen sind.

Wie auch Ihnen bekannt sein dürfte, können geschlechtliche Verirrungen (im Sinne von Abweichungen von einer biologischen Norm) kriminogene Faktoren sein. Daher unser allgemeines Interesse an einer organisierten Gruppe Homosexueller.

Unsere Erkundigungen bei der Wirtin des Gasthauses 'Alt Sankt Gallen' im besonderen erfolgten im Blick auf Artikel 44 des Wirtschaftsgesetzes, welcher Wirte zur Aufrechterhaltung von Ordnung und guter Sitte verpflichtet. Im Übrigen haben wir zurzeit keinen Anlass, Sie um irgendeine Auskunft zu bitten. [...]"

Aus der Antwort der HASG vom 27. Juni 1973:

"Ihre Antwort [...] hat zu heftiger Diskussion in unserer Arbeitsgruppe geführt, deren Ergebnis wir Ihnen wie folgt skizzieren möchten:

Wir verwahren uns aufs Schärfste gegen Ihre Annahme, unsere Gruppe würde ihren Ursprung in Perversionen haben. 'perversus' (lat.) bedeutet [...] 'geschlechtlich krankhaft veranlagt', 'widernatürlich empfindend'. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse führen Homosexualität jedoch auf Erziehung, andere Umweltfaktoren und zum Teil auch organisch bedingte Unterschiede zurück. Von geschlechtlich krankhafter Veranlagung kann hier also keinesfalls gesprochen werden.

Wir fragen uns weiter, wie Sie zu der irrigen Annahme kamen, Heterosexualität sei eine biologische Norm. Wir dürfen Sie darauf hinweisen, dass wissenschaftlichen Forschungen zufolge der Mensch weder heterosexuell noch homosexuell geboren wird. Man spricht hier von der sog. 'konstitutionellen Bisexualität' des Menschen. [...]

So wird man der Frage: 'Wie und warum wird man homosexuell?' zwei ebenso unmissverständliche Fragen entgegenhalten müssen: 'Wie und warum wird man heterosexuell?' und 'Warum eigentlich darf man nicht homosexuell sein?'

[...] Sicherlich werden Sie erkennen, dass wir keine 'kriminalsoziologisch bedeutsame Gruppe' sind, über die man sich einseitig [...] 'im Zusammenhang mit der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung' informieren muss, sondern dass wir als emanzipatorisch arbeitende Gruppe helfen wollen, mit sozialpolitischer Arbeit ein gesellschaftliches Problem zu lösen. Wir meinen, dass wir mit unserer Zielsetzung eher in Ihrem Sinne als gegen Ihren Sinn - bezogen auf Verbrechensbekämpfung - arbeiten.

Wir dürfen Sie [...] nochmals auf unser Angebot zu einem Gespräch [...] hinweisen."

Zeitzeuge René Hornung ergänzte:2

"In meiner Erinnerung war alles viel chaotischer als es jetzt [...] auf dem Papier aussieht und es war uns natürlich auch ein Spass, z.B. mit dem Polizeiinspektor D.E. Wortgefechte zu führen (er wurde später Pfarrer, ein recht toleranter dazu!)."

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Ernst Ostertag, November 2006

Quellenverweise
1

HAZinfo, Nr. 7/1973

2

In einer Mitteilung an Ernst Ostertag vom 9. November 2006