1974

Neuer Mord, alte Presse

Protest der HAZ

Einmal mehr berichtete ein Grossteil der Presse im alten einseitigen Sensationsstil über einen Mord an einem Homosexuellen. Die HAZ protestierte am 23. Oktober 1974 in einem von Heini Jung unterzeichneten Rundschreiben an die Tageszeitungen:

"Der Tod eines alleinstehenden Mannes musste dazu herhalten, die Rubrik 'Unglücksfälle und Verbrechen' unserer Tageszeitungen zu füllen: '... wieder ist ein Homosexueller das Opfer1 seines Triebes geworden.'

Offenbar liegt zunächst den Polizeiorganen daran, Tatmotive immer dann im 'Männermilieu' zu suchen, wenn die Spuren der Täter nicht ohne weiteres verfolgt werden können und der Name des Opfers im Homosexuellen-Register zu finden ist. Für die Polizei scheint ein selbstverständlicher Zusammenhang zwischen Homosexualität und Kriminalität zu bestehen. Es ist unverständlich, wie die Zürcher Tagespresse diese Einschätzung der Sachlage unkritisch übernimmt, die gleiche Tagespresse, die sonst immer wieder für die Anliegen der Homosexuellen eintritt und an sich weiss, dass kein direkter Zusammenhang zwischen Homosexualität und Kriminalität besteht.

Homosexuelle sind nicht krimineller als Heterosexuelle, aber sie werden häufiger Opfer Krimineller, weil sie keinen Schutz durch Anerkennung in der Gesellschaft geniessen und daher ihre soziale und ökonomische Stellung (Arbeitsplatz, Wohnung usw.) gefährden, wenn sie sich Recht verschaffen wollen.

Jede Berichterstattung, die nicht auf diese Zusammenhänge hinweist, vergrössert die Vorurteile in der Gesellschaft und vermindert dadurch die Möglichkeit der Homosexuellen, sich ohne weiteren eigenen Schaden zur Wehr zu setzen. Es scheinen uns daher Artikel, wie ihn der Züri-Leu am 28.10.74 unter dem Titel 'Zürich: Mekka der Homosexuellen' publiziert hat, bewusster Irreführung gleich zu kommen.

Der Täter hat gestanden: Der Mord hatte wenig mit der Homosexualität des Opfers zu tun. Aber die Zeitungsberichte haben das Vorurteil der Gesellschaft gestärkt.

Kommt es einmal so weit

  • dass die Opfer Krimineller nicht noch Opfer der Presse werden,
  • dass die Einsichten der Zeitungsredaktoren auch ihren Niederschlag in den Rubriken 'Verbrechen' und 'Gerichtsberichte' finden,
  • dass die Vorurteile der Bevölkerung durch kritische und sachliche Information abgebaut werden?

Wir ersuchen Sie höflich um Veröffentlichung dieser Stellungnahme in der nächstmöglichen Ausgabe.

Besten Dank."

Das Tagblatt der Stadt Zürich, das offizielle "Städtische Amtsblatt", veröffentlichte in der Ausgabe vom 24. Oktober 1974 einen kurzen Artikel mit Passagen des Rundschreibens.

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Ernst Ostertag, Juli 2006

Anmerkungen
1

die drei Punkte standen vermutlich für den vollen Namen des Opfers, den die HAZ bewusst nicht übernehmen wollte