1972

Zur Schwulensituation

Grundsätzliches

Auf der Rückseite des Infoblattes vom 1. Juli entwickelte die HAZ ihre Thesen. Sie waren stark von Praunheims Film geprägt. Bei den Vorführungen vom 21. bis 23. Juni in Basel, Bern und Zürich ist das Blatt an die Anwesenden verteilt worden. Kernsätze daraus:

"Schwule haben in dieser Gesellschaft nichts zu lachen. Das Tabu der Homosexualität bleibt eine der tragenden Säulen eines Moralgebäudes, das gegen Lust und Entfaltung menschlicher Sexualität schützt.

Schwule sind die treuesten Kunden der Herrenboutiquen, Warenhäuser, Kosmetikindustrie. Als Arbeitskräfte sind sie wie jedermann den landesüblichen Gesetzen einer freien Wirtschaft ausgeliefert. Aus Angst, als Schwule denunziert zu werden, wehren sie sich noch weniger als die Heterosexuellen gegen Ausbeutung und Unterdrückung an der Arbeit.

Als Menschen mit Recht auf freie Entfaltung ihrer Sexualität werden sie von der herrschenden Moral in einen sexuellen Untergrund gezwungen. Zu den üblichen geistigen und seelischen Verkrüppelungen treten also bei den Schwulen neue.

Diese zweifache Unterdrückung lässt zur Entwicklung eines humanen Menschen keinen Raum. Wer versucht, Schwule mit ihrem Schicksal auszusöhnen, ist inhuman. Nur wenn man ihnen hilft, die Fragwürdigkeit der herrschenden Normen und Gesetze zu begreifen, hilft man ihnen, sich nicht selber als fragwürdig zu begreifen.

Wohlmeinend wird Schwulen gewissermassen im Chor Toleranz angeboten. Mit besonderem politischen Wohlverhalten zeigen sie sich erkenntlich für eine Toleranz, die darin besteht, dass man sie nicht totschlägt oder einsperrt, sondern human als eine Art Aussätzige behandelt.

Für Unterdrückte ist es oft nur möglich, einigermassen trotzdem zu leben, wenn sie den Zustand ihrer Unterdrückung verdrängen. Am Grad der erfolgten Verdrängung lässt sich oft der Grad der erfolgten Unterdrückung ablesen.

Homosexuelle können oft miteinander nur als Komplizen verkehren. Komplizen sind sie, weil sie miteinander das gleiche Verbrechen oder Gebrechen teilen. Wenn es gelingt, gemeinsam gegen die gemeinsame Unterdrückung zu kämpfen, wird an Stelle des Komplizentums ein Gefühl der Solidarität entstehen. Nur unter diesem Gefühl der Solidarität wird es möglich, miteinander humane Beziehungen einzugehen.

Vereint sind wir stark!"

Das Editorial des HAZinfo Nr. 2 vom August 1972 war von Walter Kuhn verfasst. Es setzte sich unter anderem mit den 12 Punkten der "vorläufigen Grundsatzerklärung der HAW, Homosexuelle Aktion Westberlin" auseinander, indem die Gruppe S+G dazu Stellung nahm:1

a) Die Verquickung von Kapitalismus und Homosexuellen-Repression ist lächerlich. Homosexuellen-Unterdrückung gibt es in der westlichen Welt seit der Einführung des Christentums zur Staatsreligion durch Konstantin.

b) Ein politischer Konsens allein auf Grund der gemeinsamen sexuellen Abweichung (vom Normalkonsumenten) ist nicht möglich oder wäre genau so absurd, wenn beispielsweise Linkshändigkeit (ein physiologischer Fakt) die Basis zur Gründung einer politischen Partei wäre. Sich um das individuelle Schicksal der Schwulen Zürichs zu kümmern, ist wichtiger als eine gemeinsame politische Linie innerhalb der HAZ zu entwickeln. [...]

Weiter wurde argumentiert:

"Exponenten der Repression sind nicht bloss die Vertreter des Kapitalismus, sondern vor allem auch immer noch die Kirchen und ebenso sehr die bürokratisch-revisionistischen Regimes der sogenannt sozialistischen Länder. [...]

Wir Schwulen sollten einen 'neuen Humanismus' praktizieren, der nichts mit einer politischen Ideologie zu tun hat; d.h. Primat des Schicksals jedes Einzelnen, Selbsterkenntnis, Selbstbefreiung (Enthemmung, freie Entfaltung der Persönlichkeit). [...]"

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Ernst Ostertag, Juni 2006

Quellenverweise
1

HAZinfo, Nr. 2, August 1972, Seite 3