1983

VHELS ist nötig!

Zwei Beispiele

Wie notwendig die schweizerische Gründung eines Verbandes homosexueller Lehrer war und wie dringend es galt, in völliger Offenheit Veränderungen im Bereich Schule und Erziehung durchzusetzen, zeigten bereits die ersten Monate mit zwei grellen Beispielen:

1. Beamtenvertrag mit der Auflage zur Zurückhaltung

Noch vor der VHELS-Gründung hatte Jean-Pierre Sigrist als Gymnasiallehrer sein Gesuch um Verbeamtung dem damaligen Genfer Staatsrat André Chavanne (SP), Erziehungsdirektor (Département de l'instruction publique) von 1961 bis 1985, Nationalrat von 1967 bis 1977, vorgelegt und ihn im Gespräch darüber orientiert, dass er als Homosexueller bekannt sei und weiterhin öffentlich für schwule Rechte einstehen wolle. Zudem plane er die Gründung einer Organisation von homosexuellen Lehrern. Erasmus Walser zitierte die Antwort von Chavanne:1

"Ich vertraue auf Ihr Stehvermögen, Sie sind jung, Ihre Rechte können sich nur noch verbessern, also fassen Sie Mut."

Allerdings wurde bei einer weiteren Aussprache mit Chavanne und dem Direktor der Abteilung Gymnasien der Erziehungsdirektion klar, dass die offenen Tätigkeiten Jean-Pierres (Schwulendemos, Medieninterviews, Gründung der VHELS) für viele Leute eine Provokation waren und dass darum die Festanstellung im höheren Lehramt des Kantons Genf nur über eine "Kompromisslösung" anzugehen sei. Nämlich durch den:

"vorausgehenden Beweis der 'Bussfertigkeit', indem Jean-Pierre sich auf Wunsch der Schule 'für die Dauer eines Jahres jeglicher öffentlichen Auftritte, besonders in seiner 'Funktion als Lehrer' enthalten sollte. [...] Dieses Zugeständnis, das nicht wenige Auswirkungen auf Jean-Pierres Leben als militanter Schwuler haben sollte, erlaubte Staatsrat André Chavanne, den anderen Staatsräten seine Verbeamtung abzuringen."2

An der "Kompromisslösung3 beteiligten sich der VPOD (Verband des Personals öffentlicher Dienste) und die Anwältin Christiane Brunner (SP), Präsidentin des Schweizerischen VPOD von 1982 bis 1989. Zudem war sie Nationalrätin von 1981 bis 1990, Präsidentin der SP Schweiz 2000 bis 2004 und ist seit 1995 Ständerätin (GE).

Am 2. Oktober 1984 wurde Jean-Pierre Sigrist als erster offen schwuler Lehrer der Schweiz verbeamtet.

"Seine Schule bittet ihn um öffentliche Zurückhaltung in seinem Amt als VHELS-Präsident."4

Ein Jahr später trat der populäre André Chavanne von seinem Amt zurück. Als ihn

"Jean-Pierre später bei einer Maifeier ansprach, schlug Chavanne sogar eine Einladung an ein Dialogai-Treffen nicht aus."5

2. Eine Entlassung und Wiedereinstellung

Am 27. Mai 1982 erhielt der spätere Vizepräsident des VHELS, Erwin Ott, die Kündigung seiner Stelle als Erzieher am Bürgerlichen Waisenhaus Basel (Bürgergemeinde Basel-Stadt), die er am 1. Dezember 1981 angetreten hatte. Grund: Seine "homosexuelle Neigung, die ein untragbarer 'Risikofaktor' in der Arbeit eines Erziehers mit männlichen Jugendlichen" sei. Auch die für das Waisenhaus zuständige Inspektion (Behörde) bestätigte die Kündigung und deren Begründung. Erwin Ott wehrte sich dagegen und rief die Gewerkschaft VPOD an. Zudem gab es eine Petition an den Weiteren Bürgerrat (Parlament der Bürgergemeinde) mit 2'300 Unterschriften.6 Schliesslich erreichte Ott die Rehabilitierung.

Am 1. Mai 1983 wurde Erwin Ott zum Vizepräsident des neu gegründeten Vereins VHELS gewählt. Am 22. 1984 wählten ihn die Stimmberechtigten von Basel-Stadt zum ersten offen schwulen Grossrat8 der Schweiz; Wiederwahl 1988, Rücktritt Ende Legislatur 1992. Erwin Ott gehörte den POB an (Progressive Organisationen Basel).

"Sein neuer Arbeitgeber [Erasmus Walser nennt ihn nicht] zwingt Ott 1988 zur Demission als Vizepräsident der VHELS – OSEEH, während das Waisenhaus [zuvor], nach Beizug des VPOD-Rechtsdienstes, die Kündigung zurücknehmen musste."7

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Ernst Ostertag, September 2007, August 2017

Quellenverweise
1

Erasmus Walser, 10 Jahre VHELS, Seite 9

2

Erasmus Walser, 10 Jahre VHELS, Seite 10

3

"Kompromisslösung", ausgearbeitet im Mai/Juni 1983

4

Erasmus Walser, 10 Jahre VHELS, Seite 16

5

Erasmus Walser, 10 Jahre VHELS, Seite 11

6

Basler Zeitung vom 16., 23. und 24. Juni 1982

7

Erasmus Walser, 10 Jahre VHELS, Seite 15

Anmerkungen
8

Gemäss Regelung im Stadtkanton BS ist ein Grossrat sowohl Parlamentarier des Kantons als auch der Stadt im für beide gemeinsamen Gremium, dem Grossen Rat. Der Kanton BS besteht aus drei Gemeinden: Basel und, nördlich des Rheins, Riehen und Bettingen.